Folklore & Avantgarde

Von der Volkskunst bis zum Bauhaus

No. 03/2020

Von Anne Funck

Heimat und Tradition sind nicht lokal, sondern global zu verorten, zu dieser Erkenntnis führt die Ausstellungspublikation Folklore & Avantgarde. Ein internationales Autorenteam befasst sich darin, inwieweit volkstümliche Traditionen auf die Pioniere der Moderne wirkten und sie bei der Entwicklung einer neuen Bildsprache beeinflussten.

Natalja Gontscharowa, Komposition mit Pferden und Sirin-Vögeln, 1915–1917, Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau © VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Gabriele Münter probiert sich in oberbayerischer Hinterglas- und Votivmalerei, Sonia Delaunay übersetzt farbige Trachten und Bauerntänze ihrer ukrainischen Heimat in Bilder und Stoff, Brancusi errichtet rumänischen Märchen, Bauernhausfassaden, Torpfosten und Todessäulen ein skulpturales Denkmal, Picasso gibt afrikanischen Figuren ein neues Gesicht, Anni und Josef Albers folgen den Spuren der indigenen mexikanischen Kunst, und Corbusier baut sich an der französischen Riviera eine kleine Ferienhütte, die an die Schweizer Chalets seiner Heimat erinnert. Entgegen der Industriegesellschaft und den sich daraus entwickelnden Lebensmodellen, die sich von Traditionen loslösen, zogen gegen Ende des 19. Jahrhunderts viele Künstler und Architekten Inspirationen aus lokaler Volkskunst. Riten, Bräuche, Trachten, Musik, Kunsthandwerk, Tänze, Lieder, Erzählungen, subsumiert unter dem Begriff „Folklore“, der 1846 von dem englischen Kulturhistoriker William John Thoms geprägt wurde und das überlieferte Wissen (lore) des Volkes (folk) bezeichnet, stießen bei der Avantgarde auf fruchtbaren Boden und regten zu Neuschöpfungen an. Neben Privatsammlern und Museen erwiesen sich auch viele der Künstler und Künstlerinnen als Sammler: etwa Wassily Kandinsky, der seine Vorbilder im – von nachfolgenden Generationen vielfach rezipierten – Almanach  Der Blaue Reiter veröffentlichte; Elie Nadelman, der 15 000 Objekte aus Amerika und Europa ab 1926 der Öffentlichkeit zugänglich machte; oder Anni und Josef Albers, die präkolumbianische Stofffragmente und mexikanische Volkskeramiken zusammentrugen, um die geometrischen Muster und Farbkontraste in Bilder zu verweben.

Ob Gemälde, Glasbilder, Zeichnungen, Skulpturen bis hin zu Marionetten, Stoffe und Kostüme, Keramik oder Architektur – die Resultate sind so zahlreich wie vielfältig, wie der Band anhand von 350 Abbildungen aufzeigt. Ausgewählte Werke aus den Sammlungen von Larionow und Gontscharowa, Kandinsky, Kirchner, Picasso, Albers und Nadelman treten darüber hinaus in Dialog mit den eigenen Arbeiten, wie auch aus den Ausstellungsansichten des Krefelder Museums, das bis Februar diesen Jahres eine Fülle an Meisterwerken gemeinsam mit volkskundlichen Objekten präsentierte, hervorgeht. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung in Form von Essays, Einzeldarstellungen und mit Originaldokumenten gibt über die bis dato wenig überlieferte Verbindung von moderner Kunst und volkstümlichen Traditionen Aufschluss und macht die Publikation zu einem Standardwerk.

Cover für Folklore & AvantgardeFolklore & Avantgarde
Rezeption volkstümlicher Traditionen im Zeitalter der Moderne
Premium-Ausgabe
328 Seiten, 350 Abbildungen
Text: Deutsch u. Englisch in getrennten Ausgaben
Hirmer Verlag € 39,90