Mythos Van Gogh

„Van Gogh ist tot, aber die van Gogh-Leute leben. Und wie leben sie! Überall van Goghelt’s“

No. 03/2019

Von Clara Schröder

Der zu Lebzeiten verkannte Künstler, dessen Bilder in rauschhaften Zuständen entstanden, der sich ein Ohr abschnitt, verwirrt und einsam seinem Leben ein Ende setzte: Vincent van Gogh – ein Künstler zwischen Genie und Wahnsinn. Vieles, was über van Goghs Leben verbreitet wurde, ist Legende, doch seine zentrale Bedeutung für die Moderne ist unumstritten. Eine mit Spannung erwartete Blockbuster-Ausstellung, die mit rund 50 Werken des Malers die umfangreichste seit über 20 Jahren in Deutschland ist, beleuchtet die Entstehung des Mythos um van Goghs Biografie und posthume Erfolgsgeschichte sowie die enorme Wirkung seiner Kunst auf die nachfolgende deutsche Künstlergeneration, die ebenfalls in der Schau mit 70 Werken vertreten ist.

Vincent van Gogh, Selbstbildnis, 1887, T‌he Art Institute of Chicago, Joseph Winterbotham Collection

Vincent van Gogh wird 1853 als Ältester von sechs Geschwistern im niederländischen Groot Zundert in eine bürgerliche Familie hineingeboren. Nach einer Ausbildung als Kunsthändler und erfolglosen Versuchen, als Lehrer und Laienprediger Fuß zu fassen, beschließt van Gogh mit 27 Jahren, Maler zu werden. In nur rund zehn intensiven Schaffensjahren, die immer wieder von psychischen Krisen geprägt sind, entsteht sein visionäres Gesamtwerk. Im Jahr 1886 zieht er nach Paris, dort findet er zeitweise Unterschlupf bei seinem jüngeren Bruder T‌heo, der ihn schon früher finanziell unterstützt hatte und dies bis an das Lebensende van Goghs 1890 tun wird. Nur sechs Monate nach Vincent stirbt auch T‌heo, die Aufgabe, das Vermächtnis seines Bruders zu bewahren, fällt Vincents Schwägerin Johanna van Gogh-Bonger zu. Ihrer großen Umsicht ist es zu verdanken, dass umfangreiche Kontakte zu Kunstkritikern, Galeristen und Museen aufgebaut werden.

Der Berliner Galerist Paul Cassirer präsentiert als Erster in Deutschland den noch kaum bekannten Künstler, bereits im Dezember 1901 sind in seinem Kunstsalon 19 Werke des Malers zu sehen. Die anderen Museen ziehen nach, 1902 eröffnet Karl Ernst Osthaus in Hagen das Folkwang Museum und erwirbt Gemälde von van Gogh – da die Ankäufe aus seinem Privatvermögen finanziert werden, braucht er den Protest aus konservativen Kreisen nicht zu fürchten. Etwas zurückhaltender muss der Direktor Georg Swarzenski der neugegründeten Frankfurter Städtischen Galerie für moderne und zeitgenössische Kunst, an die das Städelsche Kunstinstitut angegliedert ist, agieren: 1908 zeigt er in der mit öffentlichen Geldern finanzierten Sammlung erstmals ein van Gogh-Gemälde, das Bauernhaus in Nuenen, ein eher „konventionell“ gemaltes Frühwerk des Künstlers. Wesentlich mehr strapaziert das 1911 erworbene Gemälde Bildnis des Dr. Gachet die Sehgewohnheiten des Publikums. Es ist das letzte Porträt, das van Gogh vor seinem Tod malte.

Nicht nur in bürgerlich-konservativen Kreisen stößt der Ankauf von van Gogh-Bildern für deutsche Museen auf Ablehnung, auch Künstler empören sich gegen „ausländische“ Maler und die „große Invasion französischer Kunst“. In einem vom Worpsweder Maler Carl Vinnen initiierten und von 123 Künstlerinnen und Künstlern unterschriebenen Protestschreiben wird die vermeintliche „Überfremdung“ des Kunstmarkts angeklagt – eine gespenstisch aktuelle Formulierung, die damals wie heute von einem erschreckenden Kleingeist zeugt. Max Liebermann, Harry Graf Kessler, Max Pechstein und weitere Künstler, Galeristen, Schriftsteller und Kunsthändler halten dagegen und verfassen ein öffentliches Antwortschreiben.

1912 wird in der bahnbrechenden Ausstellung des Sonderbunds Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler eine erste Überblicksschau zur modernen Kunst präsentiert. Im Mittelpunkt steht Vincent van Gogh, dem die ersten fünf Ausstellungssäle mit 125 seiner Werke gewidmet werden. Seine Erfolgsgeschichte nimmt Fahrt auf, er wird zum Vorbild einer ganzen Künstlergeneration. Vor allem der dynamische Umgang mit Farbe in den Werken aus seinen zwei letzten Schaffensjahren geben den jungen Künstlern, die heute als Expressionisten bezeichnet werden, entscheidende Impulse bei ihrem Ziel, der unmittelbaren Empfindung durch eine neue Malweise Ausdruck zu verleihen. Die Maler der „Brücke“, des „Blauen Reiter“ und viele weitere Künstler sahen in van Gogh ihr großes Vorbild, darunter Max Beckmann, Paula Modersohn-Becker, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Gabriele Münter, Karl Schmidt-Rottluff sowie heute weniger bekannte Namen wie Peter August Böckstiegel, Wilhelm Morgner, Heinrich Nauen, Elsa Tischner-von Durant oder Maria Slavona. Ihre Werke treten in der Frankfurter Ausstellung in einen spannenden Dialog mit van Goghs Gemälden.

Vincent van Gogh ist mittlerweile zu einer „Marke“ geworden, sein Mythos speist sich aus einer Legendenbildung, an deren Entstehung Galeristen, Publizisten, Sammler und Museumsdirektoren in Deutschland einen maßgeblichen Anteil hatten. Auch der Kunstkritiker Julius Meier-Graefe trug durch zahlreiche Schriften und Aufsätze, besonders aber seinen Bestsellerroman Vincent, der 1921 erschien und überwiegend fiktive Erzählungen über van Gogh enthielt, dazu bei, dass sich das Bild des tragischen Helden in unseren Köpfen verankerte. Die Ausstellung in Frankfurt wird von einem fantastischen Katalog begleitet, der die neuesten Forschungsergebnisse vereint und unsere Sicht auf van Gogh maßgeblich erweitert und bereichert.

Cover für MAKING VAN GOGHMaking Van Gogh
Geschichte einer deutschen Liebe
23. Oktober 2019 bis 16. Februar 2020
Städel Museum Frankfurt
Katalog zur Ausstellung
Deutsche und englische Ausgabe
Hirmer Verlag € 49,90