Ernst Ludwig Kirchner

Großstadtdschungel und Inselglück

No. 01/2017

In den Jahren von 1911 bis 1916, die Ernst Ludwig Kirchner in Berlin wohnte, verbrachte er rund sechs Monate auf der Insel Fehmarn. Hier die hektische Großstadt, dort Küste und Meer – das klingt nach einem Kontrastprogramm, das größer nicht sein könnte. Doch wie die aktuelle Ausstellung im Kunsthaus Zürich aufdeckt, waren es zwei Seiten im Leben des Expressionisten, die nicht voneinander zu trennen sind.

Ernst Ludwig Kirchner, Die Straße, 1913, The Museum of Modern Art, New York

Ernst Ludwig Kirchner, Die Straße, 1913, The Museum of Modern Art, New York

„Es ist schrecklich ordinär hier. Ich sehe, daß eine feine freie Kultur in diesen Verhältnissen nicht geschaffen werden kann und möchte fort …“, schrieb Ernst Ludwig Kirchner im Sommer 1912 nach einem Dreivierteljahr, in welchem er versucht hatte, in Berlin Fuß zu fassen, die Stadt aber gleichzeitig auch „interessant und reich“ empfand. Er gab nicht auf: Bis 1915 streifte er durch die Großstadt und schuf seine berühmten Straßenbilder, die für das städtische Porträt wegweisend waren: Verkehrsknotenpunkte wie der Potsdamer Platz, Menschen im Gedränge, Tänzerinnen, Kokotten mit schrillen Federhüten – ästhetische und rhythmisch durchkomponierte Nahaufnahmen des aufstrebenden Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Von der Auffassung her ähnlich, wenn auch vom Sujet her ganz anders die Insel Fehmarn, die der Künstler vier Sommer lang aufsuchte, um nicht zuletzt beim Nacktbaden mit seinen Modellen die „letzte Einheit von Mensch und Natur“ zu genießen, was ihn in einen Malrausch versetzte.

Egal ob hektische Großstädter oder Badende im Meer: Wie die Ausstellungsmacher in Kooperation mit dem Brücke-Museum Berlin in der Gegenüberstellung Großstadtrausch Naturidyll anschaulich machen, fand Ernst Ludwig Kirchner in den Berliner Jahren zu einer neuen Ausdrucksform seiner Kunst: Spitzwinkelige, kantige Formgebungen sowie rasch gesetzte, schraffurartige Pinselzüge lösten die bisherige Farbflächenmalerei ab und läuteten einen neuen Stil ein, der auf Dynamik und Vielansichtigkeit setzte, „eine Malerei der Bewegung“, wie es der Expressionist selbst beschrieb. Dass Berlin und Fehmarn untrennbar in seinem Schaffen sind, zeigt sich auch in der Handhabe des Künstlers, viele Leinwände beidseitig zu bemalen: Gleich mehrmals finden wir auf den Vorderseiten Großstadtdschungel, auf den Rückseiten Inselglück. Die Ausstellung ist bis 7. Mai im Kunsthaus Zürich zu sehen und wird von einem Katalog des Hirmer Verlags (€ 49,90) begleitet. af

9783777427294_3Dn
VIBRANT METROPOLIS / IDYLLIC NATURE
Kirchner. The Berlin Years
Hg. Zürcher Kunstgesellschaft/Kunsthaus Zürich
Hirmer Verlag € 49,90