Bedrohte Welt

Chagalls Bilder aus der Dunkelheit

No. 04/2022

Die Kunst von Marc Chagall (1887–1985), einem der bedeutendsten Künstler der europäischen Moderne, scheint auf den ersten Blick so leicht, poetisch und unbeschwert schwebend zu sein wie die Figuren, die seine farbenfrohen Kompositionen bevölkern. Doch zeigen seine Werke der 1930er und 40er Jahre eine andere Seite: politische Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die den jüdischen Künstler zu Bildfindungen wie brennende Dörfer, Fliehende, Engelstürze und Kreuzigungen bewegten.

Marc Chagall, Die Lichter der Hochzeit, 1945, Kunsthaus Zürich © Kunsthaus Zürich, Geschenk Nachlass Ernst Göhner, 1973/VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Marc Chagall, als Moische Schagal in der heute zu Belarus gehörenden Stadt Witebsk geboren, zieht es nach seinem Studium in St. Petersburg 1911 nach Paris. Dort taucht er in die Kunstszene ein, beteiligt sich an den Ausstellungen im Salon des Indépendants und findet bald auch über die Grenzen hinaus für seine Bilder Anerkennung. Chagalls Aufenthalt in Paris wird durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen, er kehrt zurück in seine Geburtsstadt und übersiedelt 1923, mittlerweile mit Frau Bella und Tochter Ida an seiner Seite, nach Frankreich, in die Nähe von Paris. Anlässlich einer Reise nach Berlin erlebte Chagall als jüdischer Maler Anfang 1930 die spürbar aggressive, antisemitische Stimmung in Deutschland. In seine Kunst fließen nun Elemente ein, die mit beklemmender Weitsicht die herannahende Tragödie erahnen lassen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten bleibt Chagall mit seiner Familie zunächst in Paris, erst 1939 fliehen sie nach Südfrankreich, um schließlich 1941 in die USA zu emigrieren, wo seine Frau stirbt.

Seine existenzielle Bedrohung durch das NS-Regime, die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung und ihrer Kultur, Krieg, Flucht und die Fragen nach der eigenen jüdischen Identität und ihren Wurzeln spiegeln sich in Chagalls Bildern dieser Schaffensphase wider. Für die Einordnung und das tiefere Verständnis seines Œuvres sind die Werke, von denen rund 60 Arbeiten zurzeit in der Schirn Kunsthalle zu sehen sind, von immenser Bedeutung – räumen sie doch mit dem gängigen Klischee von Chagall als dem „Poeten der Moderne“ auf. cs

Cover für Chagall Chagall. Welt in Aufruhr
Bis 19. Februar 2023
Schirn Kunsthalle Frankfurt
16. März 2023 bis 18. Juni 2023
Henie Onstad Kunstsenter, Oslo

Katalog zur Ausstellung
Deutsche, englische, norwegische Ausgabe
Hrsg. von Ilka Voermann
Hirmer Verlag € 39,90