Zwischen Thanatos und Eros

Die Morbide Bildwelt des belgischen Symbolismus

No. 03/2020

Von Wilfried Rogasch

26 Maler und Bildhauer werden in der bahnbrechenden Ausstellung Dekadenz und dunkle Träume – Der belgische Symbolismus in der Berliner Nationalgalerie vorgestellt. Nie zuvor wurden die belgischen Symbolisten in Deutschland in diesem Umfang präsentiert. Ihre suggestiven Bildwelten schöpften Anregungen aus Literatur, Musik und besonders aus der noch jungen Wissenschaft der Psychologie sowie der Psychoanalyse und Traumdeutung von Sigmund Freud.

Jean Delville, L’Amour des âmes (Die Liebe der Seele), 1900, © Musée d’Ixelles – Brüssel, Foto: Vincent Everarts

Als Ergebnis einer großen kollektiven Sinnkrise, die Ende des 19. Jahrhunderts, dem Fin de Siècle, ganz Europa erfasste, entstand im wirtschaftlich erfolgreichen und kulturell liberalen Belgien eine revolutionäre neue Kunstrichtung, der Symbolismus. Diese vielschichtige Kunstströmung einer Welt im Umbruch wurde sogleich von den europäischen Nachbarn rezipiert: Es folgte ein fruchtbarer Austausch zwischen belgischen Künstlern und solchen in den übrigen wichtigen Kunstzentren Europas wie Paris, London und Wien. Die meisten symbolistischen Künstler Belgiens wirkten in der Metropole Brüssel, einige auch in Ostende, Gent und Antwerpen. Am bekanntesten hierzulande sind James Ensor (1860–1949) und Fernand Khnopff (1858–1921), dessen 1896 entstandenes Gemälde Liebkosungen aus den Königlichen Museen für Schöne Künste in Brüssel das Hauptwerk der Schau bildet und Fragen aufwirft (siehe Titelseite dieser Fresko-­Ausgabe). Eine Sphinx mit dem Kopf einer jungen Frau und dem Körper eines Gepards schmiegt zärtlich ihre Wange an die ihres Bezwingers, Ödipus. Dieser trägt ­einen lässig umgeworfenen Schurz sowie silberne Sterne auf den Brustwarzen und hält einen Stab mit einer geflügelten Glaskugel. Die Schriftzeichen im Hintergrund lassen sich nicht entschlüsseln. Die genaue Deutung des Bildes bleibt unmöglich – was sicher den Intentionen des Malers entsprach. Die Frau als Femme fatale, atemberaubend attraktiv, aber verrätselt und letztlich männermordend, die er hier porträtiert, ist ein Schlüsselsujet zahlloser männlicher Künstler um 1900. Im Falle von Khnopff kam eine unglückliche, da gesellschaftlich unmögliche Liebe zu seiner sechs Jahre jüngeren Schwester Marguerite hinzu.

Doch gilt es, eine Vielzahl von Künstlern dieser faszinierenden Stilrichtung neu zu entdecken, darunter Jean Delville, George de Feure, Eugène Laermans, Constant Montald und Félicien Rops. Wiederkehrende Themen waren die Abgründe der menschlichen Seele, die als kompliziert, wenn nicht gar tödlich betrachteten Beziehungen zwischen Mann und Frau, die Spannung zwischen Schönheit und Vergänglichkeit und die Rolle des Individuums in einer sich rasant verändernden Welt. Typisch ist die Vorliebe für das Dekadente, Makabre, Morbide und Magische und die Nachtseiten der menschlichen Existenz. Dahinter steckten massive Zukunftsängste, wie sie auch heute vielen Menschen vertraut sind. Gleichzeitig förderte der Zeitgeist um 1900 den Künstlertypus des selbstverliebten Narzisses und den „Tanz auf dem Vulkan“, den Wunsch, die Gegenwart bis zur Neige auszukosten, ohne an die unsichere Zukunft zu denken.

Cover für Dekadenz und dunkle TräumeDekadenz und dunkle Träume
Der belgische Symbolismus
Bis 17. Januar 2021
Alte Nationalgalerie, Berlin
Katalog zur Ausstellung
Text: Deutsch u. Englisch in getrennten Ausgaben
336 Seiten, 265 Abbildungen
Hirmer Verlag € 45,–