Zwischen Coolness und Tristesse

Innenansichten des jungen China

No. 01/2021

About us. Junge Fotografie aus China füllt eine Leerstelle. Die jüngst erschienene Publikation gewährt seltene Einblicke in die persönlichen Erfahrungswelten zeitgenössischer chinesischer Künstlerinnen und Künstler, die sich dem Medium der Fotografie verschrieben haben. Außer Cao Fei und Ren Hang sind die meisten der 40 vorgestellten Künstler im Westen weitgehend unbekannt. Ihre Innenansichten Chinas vermitteln tiefe Einblicke in ein autoritäres Land, das immer auch Mysterium bleiben wird. Es sind Ansichten, die in ihrer emotionalen Unmittelbarkeit neue Wege beschreiten und tief berühren.

Liang Xiu, Fringe of Society – Keep Watching, 2016, Sammlung Alexander Tutsek-Stiftung
© Image courtesy of the artist and Three Shadows + 3 Gallery

Die Fotoarbeiten dokumentieren den radikalen sozialen und kulturellen Wandel in einem riesigen Land, das mit seinen Mega-Metropolen und massiver Landflucht ebenso zu kämpfen hat wie mit dem Verschwinden seines kulturellen Erbes. Nach dem Ende der Kulturrevolution in den 1990er Jahren hat sich das künstlerische Selbstverständnis einer neuen Künstlergeneration grundlegend verändert. Nachdem das Medium Fotografie lange vor allem dem sozialen Realismus und der Propaganda diente, entwickelt sie Ausdrucksformen, die mit der Fotografie experimentell und sehr viel freier umgeht. Anhand von über 200 Arbeiten aus den letzten 20 Jahren lässt sich das eindrücklich nachvollziehen.

Im Zentrum fast all dieser aktuellen Fotografien steht der Mensch: oft in seiner Verletzlichkeit, seiner Einsamkeit und dem Ausgeliefertsein an ein politisches System, das die Freiheit des Individuums stark einschränkt. Chen Ronghui dokumentiert in seiner Serie Freezing Land die Auswirkungen der Landflucht im Nordosten Chinas:

Chen Ronghui, Freezing Land 30, 2016–2018, Sammlung Alexander Tutsek-Stiftung
© Image courtesy of the artist and Three Shadows + 3 Gallery

präzise Milieustudien und Porträts junger Menschen, die im unlösbaren Konflikt zwischen Land- und Stadtleben gefangen sind. Oder Adou, der mit Hilfe eines alten Entwicklungsverfahrens in den entlegenen Provinzen West-Chinas atmosphärische Schwarz-Weiß-Aufnahmen schafft, die in ihrer Austerität längst vergangene Welten eines bäuerlichen, entbehrungsreichen Lebens heraufbeschwören. Auch Wang Ningde arbeitet ausschließlich schwarz-weiß. Seine aus der Zeit gefallenen Protagonisten, oft in traditionellen chinesischen Uniformen, haben grundsätzlich die Augen geschlossen und scheinen dem Hier und Jetzt vollkommen entrückt. In krassem Gegensatz dazu stehen die farbig schrillen Inszenierungen und Choreografien nackter Körper, die Ren Hang bis zu seinem Freitod im Jahr 2017 ins Bild setzte.

Zu sehen waren die Fotoarbeiten bis Ende Februar in den lichten Räumen der Alexander Tutsek-Stiftung in München. Diese hat sich bei der Förderung von zeitgenössischer Kunst vor allem dem Werkstoff Glas und der Fotografie verschrieben. Nach einer Ausstellung von Robert Rauschenbergs fotografischen Außenansichten auf das China der 1980er Jahre scheint die Auseinandersetzung mit der aktuellen Kunstproduktion der im Land lebenden Künstler logisch. ck

Cover für About UsAbout us. Young Photography in China
Von Eva-Maria Fahrner-Tutsek, Petra Giloy-Hirtz
Text: Englisch
296 Seiten, 239 Abbildungen in Farbe
Premienausgabe:Papierwechsel
Hirmer Verlag € 39,90