Wolfsschlucht

No. 01/2015

Holzkirchen

Die Alpen waren nah an diesem Abend. Auf Wallberg und Hirschberg lagen Schneereste, die Zweitausender dahinter leuchteten weiß. Der April war mild in diesem Jahr. Bianca Stein saß auf der Terrasse ihres Hauses und betrachtete die Alpenkette, ohne sich an dem Anblick zu erfreuen. Im Whisky bildeten sich zitternde kleine Wellen, als sie das Glas zum Mund führte. Die malzige Hitze, die sich in ihren Eingeweiden ausbreitete, beruhigte sie, und als sie das Glas absetzte, blieb die Flüssigkeit ruhig. Sie schloss die Augen. Das Pochen der Schläfenadern verursachte einen stechenden Schmerz oberhalb ihrer linken Braue.

Sie war mit dem Kopf gegen die Schreibtischkante geprallt, und der helle Teppichboden in ihrem Büro hatte rote Flecken bekommen. Er muss schnellstmöglich ausgewechselt werden, dachte sie, während sie das Glas noch einmal an die Lippen hob. Platzwunden auf der Stirn seien sehr ergiebig, hatte man ihr im Krankenhaus versichert. Vier Stiche musste der Assistenzarzt in der Notaufnahme setzen. Er hatte sie skeptisch angesehen, als sie sagte, sie sei gestolpert. Das war ihr egal. Mehr Sorge hatte ihr bereitet, dass der Assistenzarzt jung war und unerfahren. Begriff er überhaupt, was eine Narbe im Gesicht für eine Frau bedeutete? Wie viele Platzwunden hatte er schon genäht?

Das Telefon klingelte. Es war Isabell, ihre Mutter.
„In der Arbeit haben Sie gesagt, du musstest ins Krankenhaus? Um Himmels willen – was ist passiert?“ Bianca erzählte es.

„Mein Gott! Auf die Schreibtischkante! Das kommt davon, wenn man am Wochenende ins Büro geht.“ Es folgte eine Pause, in der Isabell etwas trank, Wein vermutlich. Bianca konnte es ihr kaum vorhalten mit einem Glas Whisky in der Hand. „Wie geht es dir jetzt?“ „Schlecht.“ „Ja, ich weiß. Narben sind was Fürchterliches.“ „Mitten im Gesicht! Ich hätte auch mit dem Hinterkopf draufknallen können. Aber nein!“ Bianca schniefte und kämpfte mit den Tränen.

„Vielleicht wächst die Augenbraue ein bisschen drüber. Man muss ja nicht immer so dünn zupfen.“ „Ich will aber nicht aussehen wie Breschnjew! Was redest du da?“ „Tut mir leid, Spatz. War nur ein Vorschlag.“ Es folgte eine weitere Getränkepause. „Um was ging es denn bei dem Streit?“

Bianca überlegte kurz, ob sie ihre Mutter einweihen sollte. Aber das war noch zu früh. Sie wollte erst Gewissheit haben. Außerdem war sie sich nicht sicher, inwieweit sie ihrer Mutter trauen konnte. Vielleicht wusste sie es schon seit Jahren. „Das Übliche. Ich habʼ ihm gesagt, dass wir bald pleite sind, wenn er so weitermacht. Das hört er nicht gern.“

„Ah ja?“
Isabell war fern aller Lebenswirklichkeit und Alkoholikerin. Um so mehr staunte Bianca über das feine Gespür ihrer Mutter. Kein Zweifel – sie ahnte, dass es diesmal um mehr gegangen war. Bianca schwieg. „Kann ich dir irgendwie helfen?“ „Im Augenblick nicht. Aber es kann sein, dass ich dich bald brauche. Es wäre schön, wenn du dann wirklich da wärst.“

„Ich … ich bin da.“ Isabell machte eine weitere Pause, aber es schien Bianca, dass sie diesmal nicht trank. „Du machst mir Angst. Aber ich bin da, okay?“

„Ich melde mich. Ciao.“
Bianca legte auf. Sie hatte Angst. Angst vor dem Kampf, der ihr bevorstand. Vor der Auseinandersetzung und dass sie sich vielleicht auf lange Zeit mit anderen Menschen zerstreiten würde. Diese Furcht war normal und vernünftig. Aber dann saß da noch die andere Angst in ihrem Bauch. Eine naive, abgrundtiefe Angst, wie sie Kinder hatten oder vielleicht Menschen im Mittelalter. Bianca war weder Kind noch im Mittelalter verhaftet. Sie war Anfang dreißig, hatte ein Studium absolviert und arbeitete erfolgreich als Marketingmanagerin einer Privatklinik. Und dennoch hatte sie eine ganz und gar irrationale Angst. Angst vor einer Frau mit roten Haaren und stechend grünen Augen. Angst vor einer Hexe …

Auszug aus:
Wolfsschlucht 
Von Andreas Föhr 
400 Seiten, 
broschiert Knaur Verlag € 14,99