Überirdisch schön
"Direkt durch mich hindurch gemalt"
No. 04/2018
Die drei Künstlerinnen, die derzeit im Mittelpunkt der vielbeachteten Schau im Lenbachhaus München stehen, hatten eines gemeinsam: Spirituell inspiriert und geleitet schufen sie Werke, in denen sie Naturgesetze und Übersinnliches sichtbar machen wollten. Mit ihrer Bildsprache waren sie ihrer Zeit weit voraus, eine unter ihnen, Hilma af Klint, gilt heute als Pionierin der Abstraktion.
Das Interesse der in London aufgewachsenen Künstlerin Georgiana Houghton (1814–1884) für den Spiritismus erwachte 1859, nachdem sie einer Séance beigewohnt hatte. Unter der Leitung jenseitiger Wesen, mit denen sie während der Sitzungen in Verbindung trat, schuf sie farbintensive Werke, die vollständig abstrakt sind: überlagerte Bögen, Wellen und Spiralen, bei denen großzügige Pinselschwünge neben feinen Linien und Punkten stehen. Houghton notierte das Entstehungsdatum, den Titel, die an der Zeichnung beteiligten Geister sowie Hinweise zur Interpretation der jeweiligen Arbeit auf deren Rückseite oder einem separaten Blatt. Ihre Spirit Drawings bezeichnete sie selbst als „Werke, die nach keinem bekannten oder akzeptierten Kanon der Kunst beurteilt werden können“. Houghton ist diejenige der drei Künstlerinnen, die am frühesten gewirkt hat, jedoch erst seit 2015 mit ihrem Werk international bekannt geworden ist.
Auch die Malerin Hilma af Klint (1862–1944) war sich dessen bewusst, dass ihre Bilder bei Zeitgenossen auf Unverständnis treffen, und verfügte 1932, dass ihre Arbeiten erst lange nach ihrem Tod gezeigt werden dürften. Die in Stockholm geborene Künstlerin entwickelte aus dem Geist des Spiritismus, der Rosenkreuzer und der Theosophie Bildserien mit organischen oder geometrischen Abstraktionen in ungewöhnlichen Farb- und Formkombinationen. Sie war davon überzeugt, dass sie beim Malen mit Wesen einer höheren Bewusstseinsebene in Kontakt stand: „Die Bilder wurden direkt durch mich hindurch gemalt, ohne Vorzeichnungen und mit großer Wucht.“ Die Wiederentdeckung ihrer Werke in den letzten Jahrzehnten wurde von der Erkenntnis begleitet, dass af Klint bereits einige Jahre vor Wassily Kandinsky, Piet Mondrian, Kasimir Malewitsch und František Kupka, die als „Erfinder“ der Abstraktion gelten, ungegenständliche Werke erschaffen hatte, und wird folgerichtig heute zu den Begründerinnen der abstrakten Malerei des 20. Jahrhunderts gezählt.
Emma Kunz (1892–1963) ist die einzige der drei Künstlerinnen, die keine akademische Ausbildung erhielt. Sie zeichnete bereits in ihrer Jugend, ihr künstlerisches Werk entstand jedoch erst ab 1938. Ausgehend von ihrer Intuition und mithilfe eines Pendels schuf sie großformatige Zeichnungen, die in verschiedenen geometrischen Formen Energieströme sichtbar machten. Die Werke entstanden jeweils in einem einzigen mehrstündigen und hochkonzentrierten Arbeitsprozess und sind Ausdruck einer ganzheitlichen Lebensphilosophie. In erster Linie verstand sich Kunz, die in einer ländlichen Gegend der Schweiz lebte, als Forscherin und widmete ihr Leben der Untersuchung von Energien und Kräften der Natur. Der Blick der Ausstellung und des sehr ansprechend gestalteten Katalogs reicht von den betörend schönen Bildern bis hin zu dem historischen Kontext, in dem diese Werke entstanden sind, und geht damit der spannenden Fragestellung nach, in welchen gedanklichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen sich die künstlerische Abstraktion in der Moderne entwickelte. cv
Weltempfänger Georgiana Houghton – Hilma af Klint – Emma Kunz Bis 10. März 2019 Städtische Galerie im Lenbachhaus, München Katalog zur Ausstellung Hirmer Verlag € 39,90