Spiegel der Zeit

Schieles Selbstporträts

No. 04/2023

Egon Schiele, der aufgrund seines kurzen Lebens nur rund zehn Jahre künstlerisch aktiv sein konnte, überrascht in seinem Werk mit einer erstaunlich hohen Anzahl von Selbstbildnissen. Über 170-mal stellte er sich in Gemälden, Zeichnungen, Papierarbeiten und Fotografien dar und war damit sein häufigstes Modell.

Egon Schiele, Selbstbildnis mit an die Brust gelegten Händen, 1910, Sammlung Kamm, Kunsthaus Zug

Die Intention seiner Porträts war jedoch nicht die narzisstische Selbstbetrachtung, vielmehr nutzte Schiele sein Antlitz als eine Art Spiegel, um mit radikalen und übersteigerten Darstellungen seines grimmassierenden Gesichts, des ausgemergelten, nackten, verzerrten Körpers und der Hände in expressiver Gestik die Vielfalt der Seelenzustände und inneren Kämpfe des Individuums im Allgemeinen abzubilden. Damit griff Schiele ein zentrales Thema der beginnenden Moderne auf, in der bis dahin gültige Wahrheiten infrage gestellt und Strukturen aufgelöst wurden und der einzelne Mensch, verunsichert, aggressiv, entsetzt, traurig oder ratlos, seine Position neu suchen und definieren musste. cv

Die Gesichter des Egon Schiele
Hrsg. von Elisabeth Leopold
160 Seiten, 110 Farbabbildungen
Deutsch und Englisch in getrennten Ausgaben
Hirmer Verlag € 35,–