Schmucklose Existenz
No. 01/2023
Seinen Roman Das Fräulein schrieb der Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić 1944 in einer intensiven Schaffensphase. Seine malerischen Beschreibungen von Sarajevo und dem Leben zu Anfang des 20. Jahrhunderts gleichen einem Gemälde, durch das die Entwicklung der Protagonistin Rajka einen hässlichen Riss zieht. Nach einer Neuübersetzung aus dem Slawischen erscheint es wiederaufgelegt im Zsolnay Verlag.
Als Rajkas Vater, ein angesehener Kaufmann in Sarajevo, am eigenen Bankrott zugrunde geht und schließlich stirbt, schärft er seiner 15-jährigen Tochter noch mit den letzten Atemzügen ein: „Spare, spare immer, überall, an allem, und kümmere dich um nichts und niemanden.“ Dass er mit diesen Worten den Grundstein für eine überaus triste Biografie gelegt hat, bekommt er nicht mehr mit. Rajka nämlich hält sich verbissen an den Rat ihres Vaters. Schnell wird sie zum Oberhaupt der Familie – außer ihr verbleibt nur noch die stille Mutter –, steigt in der Geschäftswelt auf und vertreibt ihre Freunde. Aus Sparsamkeit wird Raffgier und so sehr ihre geschäftlichen Niederlagen und Erfolge auch vom (politischen) Weltgeschehen abhängen, so wenig nimmt sie Anteil daran. Als sie Ratko kennenlernt, scheint sich der Wind erst zu drehen, und Rajka wirft all ihre Prinzipien über Bord – doch sind die Spurrillen ihres Lebens dann doch zu tief, um andere Wege zuzulassen, und so erfährt sie auf schmerzhafte Weise, dass es Umstände und Menschen gibt, die sich ihrer Kontrolle entziehen.
Ivo Andrić, 1892 in Travnik/Bosnien geboren, studierte Slawistik und Geschichte in Zagreb, Wien, Krakau und Graz. 1920 trat er in den diplomatischen Dienst ein, 1939 bis 1941 war er jugoslawischer Botschafter in Berlin. 1961 erhielt Andrić den Nobelpreis für Literatur. la
Das Fräulein Roman von Ivo Andrić übersetzt aus dem Slawischen von Edmund Schneeweis, Katharina Wolf-Grießhaber Gebunden, 272 Seiten Zsolnay Verlag € 28,–