Queeres Leben

Zwischen Empowerment und Stigmatisierung

No. 04/2022

In einer mulitmedialen Ausstellung widmet sich das NS-Dokumentationszentrum in München der Geschichte von LGBTIQ* im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Fotografien, Briefe, Gerichtsbeschlüsse sowie unzählige weitere Dokumente erzählen von queeren Lebensentwürfen, unterdrückter Sexualität, großen Lieben und geheimen Netzwerken. Der Titel TO BE SEEN macht als bunt oszillierender Schriftzug klar: All das soll aus den Archiven ans Licht geholt und endlich gesehen werden!

Polizeifoto von Liddy Bacroff, aufgenommen nach einer Festnahme 1933, © Staatsarchiv Hamburg

Im historischen Rückwärtsgang schildert die Museumsschau die Entwicklung von ersten Emanzipationsbewegungen Anfang des letzten Jahrhunderts über Selbstermächtigungsversuche während der Weimarer Republik bis hin zum jähen Ende jeglicher Subkultur unter den Nationalsozialisten. Auch in den von wenig Liberalität geprägten Nachkriegsjahren wurden Menschen, die klassischen Rollenbildern nicht entsprachen, weil sie sexuelle Identitäten jenseits normierter Ordnungen lebten, gesellschaftlich ausgegrenzt.

Anders im Berlin der goldenen 1920er Jahre. Fotografien aus der Zeit zeugen von einem erstarkten Selbstbewusstsein der queeren Szene, die mit „crossdressing“ – dem Vertauschen vermeintlich geschlechtsspezifischer Kleidungsattribute – vor allem in der Mode revolutionäre Trends setzte. Frauen begannen, die Haare als kurz geschnittenen Bob zu tragen und in Marlene-Dietrich-Hosen über den Kudamm zu schlendern. Das Spiel mit den Geschlechterrollen, eine queere Ästhetik eroberte damals nicht nur das Nachtleben Berlins mit seinen Varietés und Clubs, sondern ließ Freiräume für Menschen wie Gerd Katter oder Lili Elbe, deren Geschichte einer frühen Geschlechtsumwandlung vor einigen Jahren durch den Film The Danish Girl berühmt wurde. Der Katalog zur Ausstellung bietet einen umfassenden wissenschaftlichen Überblick zu einem Thema, das viel zu lange nicht gesehen wurde. ck

Cover für To Be SeenTo be seen. Queer Lives 1900–1950
Bis 21. Mai 2023
NS-Dokumentationszentrum, München

Katalog zur Ausstellung
Text: Deutsch/Englisch
Hirmer Verlag € 24,90