Poesie malen
Die Avantgarde japanischer Schriftkunst
No. 01/2022
Seit Jahrtausenden nimmt in Japan die Schriftkunst einen besonderen Rang ein. Bis Mitte der 1940er Jahre war es Gebot, Kalligrafie nicht zu modernisieren, da sie als göttliche Kunst galt. Das änderte sich grundlegend mit dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Kontext die verheerende Niederlage Japans einen epochalen Einschnitt bedeutete. Als Reaktion darauf wendeten sich die japanischen Künstler*innen von alten Traditionen und suchten nach neuen Richtungen und Strukturen für ihre Schriftkunst.
Miyazaki Shiko, Weiße Pflaumenblüten, Dichtung von Basho Matsuo (Übersetzung: Weiße Pflaumenblüten / ist es gestern gewesen / als man den Kranich stahl …), 2009 © Heinz Kroeh
Anfang der 1950er Jahre formierte sich eine Avantgarde-Bewegung, der auch die Mitglieder der einflussreichen Bokujinkai-Gesellschaft (Gesellschaft der Tusche-Menschen) angehörte. Ihre Absicht war es, den westlichen Kunstströmungen wie dem Informel oder dem Abstrakten Expressionismus zwar nicht blind zu folgen, aber dennoch mit ihnen in eine künstlerische Auseinandersetzung einzutreten. Damit sahen sie sich nicht mehr als reine Kalligrafie-, sondern vielmehr als Sho-Künstler*innen und bezogen sich damit auf die japanische Bezeichnung für das Wort „Schreiben“.
Der großformatige und edel gestaltete Band Der Atem Japans stellt 30 Werke namhafter japanischer Künstler*innen vor – darunter Tsuji Keiun, Kito Bokushun, Miyazaki Shiko, Nakano Hokumei und Nakajima Hiroko – deren Arbeiten von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart reichen. Die meisten von ihnen lassen sich bei ihren Werken durch Haiku-Prosa inspirieren, Pinsel und Tusche verweben Bilder und Worte, Malerei und Gedichte, visualisieren Zen-Weisheiten und Naturbeschreibungen. Den unterschiedlichen Ausführungsweisen der „Schreibstile“ der Künstler*innen anhand 75 großzügig abgebildeter Werke und fundierten Essays zu folgen, ist ein ausgezeichneter Kunstgenuss, der eindrucksvoll die Verbindung von alten Traditionen und neuem Denken visualisiert. cs
Der Atem Japans Geschriebene und gemalte Poesie Japanische Kunst der Gegenwart Hrsg. von Heinz Kroehl, Hans Bjarne Thomsen Text: Deutsch / Englisch 176 Seiten, 75 Abbildungen in Farbe Premiumausgabe: Veredelter Einband, Spotlackierung, Überformat Hirmer Verlag € 49,90