Das menschliche Gehirn

Eines der letzten grossen Rätsel

No. 01/2022

Die Bundeskunsthalle in Bonn zeigt eine innovative, interdisziplinäre und facettenreiche Ausstellung über das menschliche Gehirn, das seit 100 Jahren mit zunehmender Intensität erforscht wird, dessen Rätsel der komplexen Funktionalität aber bislang nicht gelöst werden konnte. Dazu ist ein umfangreicher Katalog erschienen, der als spannendes Kompendium auch unabhängig von der Schau äußerst lesenswert ist.

F. R. Büchi, Das Gespenst des Gehirns, 1883 © Museo di Anatomia umana „Luigi Rolando“, Università di Torino, Foto: R. Goffi

Das Organ in unserer Schädelhöhle steuert unser Leben und Erleben. Das Gehirn erscheint äußerst kompliziert und rätselhaft: Ist es die menschliche Schaltzentrale, eine Art Supercomputer, die Behausung des Ichs? Trotz vielfältiger medizinischer und interdisziplinärer Forschung gibt es allerhand, was wir bis heute noch immer nicht wissen. Vielen Wissenschaftlern gilt die Entschlüsselung des Gehirns als letzte Herausforderung auf dem Weg zur Selbsterkenntnis.

Anhand von fünf Fragestellungen illustriert das Buch naturwissenschaftliche, philosophische und künstlerische Denkansätze, bei denen unter anderem anatomische, neurologische, medizinhistorische und psychiatrische Aspekte betrachtet, aber auch Streifzüge in die Religionsgeschichte und die Informatik unternommen werden. Die fünf Fragen lauten: Was habe ich im Kopf? Wie stelle ich mir die Vorgänge im Gehirn vor? Sind ich und mein Körper dasselbe? Wie mache ich mir die Welt? Und: Soll ich mein Gehirn optimieren? Jedes dieser fünf Kapitel enthält Essays, Reportagen, Interviews, Illustrationen und Filmtipps, was dem Buch einen bunten, magazinartigen Charakter verleiht.

André-Pierre Pinson, Die Frau mit der Träne, 1784 © Muséum National d’Histoire Naturelle, Musée de l’Homme, Paris

Die erste Frage geht den Bausteinen des Gehirns in anatomischer und physiologischer Hinsicht nach, die Erforschung, Vermessung und Deutung des Organs steht hier im Mittelpunkt. Die zweite Frage beschreitet den Weg von der sichtbaren Struktur zur unsichtbaren Arbeitsweise des Gehirns. Die dritte Frage lautet: „Sind ich und mein Körper dasselbe?“ Wo die Grenze zwischen Körper und Geist verläuft, ist bis heute nicht zu definieren. Schon die antiken griechischen Philosophen trieb das Leib-Seele-Problem um. Der Glaube an ein vom Körper losgelöstes, unsterbliches Ich, unsere Seele, scheidet bis heute die Geister. Viele Naturwissenschaftler verneinen die Existenz einer autonomen Seele, die nach dem Tod eines Menschen weiterlebt. Darüber hinaus betrachten die Autoren in diesem Kapitel Zustände des Identitätsverlustes, zum Beispiel aufgrund einer Demenz.

An vierter Stelle wird untersucht, wie die Welt in unseren Kopf kommt und wie verlässlich unsere Wahrnehmung und unser Gedächtnis arbeiten. Versuche zeigen, dass sich unser Gehirn leicht täuschen lässt. Die letzte Frage „Soll ich mein Gehirn optimieren?“ zeigt Zukunftsperspektiven der Hirnforschung auf, in denen Medizin und Technik das Organ perfektionieren könnten. Dabei stellt sich jedoch die grundsätzliche ethische Frage, wie weit wir in dieser Hinsicht überhaupt gehen wollen. wr

Cover für Das GehirnDas Gehirn in Kunst und Wissenschaft
Bis 26. Juni 2022
Bundeskunsthalle Bonn
Katalog zur Ausstellung
272 Seiten, 300 Abbildungen in Farbe
Premiumausgabe: Mit Laserfolie geprägtes Cover
Hirmer Verlag € 34,90