Künstlerische Intelligenz

No. 04/2020

Polina Barskova, 1976 in Leningrad geboren, war ein Wunderkind der Lyrik, ihr erstes Gedicht erschien, als sie sieben war. Mit 15 veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband. Sie studierte Klassische Philologie in Sankt Petersburg und Slawistik in Berkeley, wo sie mittlerweile Professorin ist. Nicht nur als Literaturwissenschaftlerin, sondern auch in ihrem lyrischen Werk – acht Gedichtbände seit 1991 – widmet sie sich den Künstlern der Leningrader Blockade. Lebende Bilder, ihr erster Prosaband, wurde mit dem Andrej-Belyj-Preis ausgezeichnet.

Die Leningrader Eremitage erweist sich als letzter Schutzraum für zwei Liebende, die sich Gedichte und Geschichten ins Gedächtnis rufen und erzählen, gemeinsam Gemälde nachstellen und so den Winter des Jahres 1941/42, als die deutsche Wehrmacht Leningrad belagert und über eine Million Zivilisten sterben, momentweise ausblenden. Diesem zentralen Text sind zehn Prosastücke vorangestellt, am Ende handeln alle von Sankt Petersburg als imaginären Ort und von den „Vertretern der künstlerischen Intelligenz“, bekannt oder längst vergessen. Frei von Klischees und dem Zugriff auf Erinnerungen – Barskova hat keine Verwandten, die die Blockade miterlebt haben – ist ihr Blick auf die Geschehnisse nicht politischer Natur, sondern unvoreingenommen und offen für die vielen Geschichten, die die von ihr beschriebenen Persönlichkeiten mit sich herumtragen.

Oftmals belehren und offenbaren Texte, sie nehmen den Lesenden an die Hand. Bei Barskova hingegen wird man in den Text gelockt, hinein- und wieder herausgerissen. Immer wieder wird etwas aufgebrochen, fängt an, endet abrupt – jedoch nie ohne Sinnhaftigkeit, sie verleiht den Worten oft sogar eine ganz neue Bedeutung. Sätze können hier sinnlich und drastisch zugleich sein, das eine nimmt dem anderen nichts. Anstößiges oder Ekelhaftes wird so beschrieben, dass es anmutig wirkt oder fein. Ein alltägliches Überqueren der Straße oder die Umarmung zweier Liebender hingegen wird erbarmungslos seziert. Barskovas Texte, ausgezeichnet durch morbide Schönheit, laden ein, mehr über die Menschen und die Zeit der Blockade zu erforschen, erschaffen aber vor allem eines: lebende Bilder. la

ImageLebende Bilder
Von Polina Barskova
Gebunden, 218 Seiten
Suhrkamp € 22,-