„Ich war hier (und du nicht)“
Postkarten erzählen die Geschichte des Westens Amerikas
No. 02/2019
In buchstäblich letzter Minute rettete der Sohn des Postkartenkönigs nach dem Verkauf der Firma tausende Karten vor dem Müllcontainer, um sie der Nachwelt zu erhalten. Heute sind die sogenannten Leinenpostkarten aus dem Amerika der 1930er bis Ende 50er Jahre zu hochbegehrten Sammlerobjekten geworden.
1895 emigrierte Curt Teich, kaum 18 Jahre alt, aus Deutschland nach Amerika, wo er zunächst als Drucker arbeitete, bevor er drei Jahre später in Chicago seine eigene Druckerei gründete. 1905 reiste er mit dem Zug von Florida bis an die Westküste, bei jeder Station stieg er aus und fotografierte die vielen kleinen Geschäfte, die er entlang der Hauptstraßen sah. Diese Fotos bildeten die Grundlage für die ersten großen Auflagen illustrierter Postkarten – der Beginn einer unvergleichlichen Erfolgsgeschichte. 1931, die Firma wurde mittlerweile von Curt Teich jr. geleitet, brachte dieser handkolorierte Leinenpostkarten auf den US-Markt, die durch ihre Motiv-Vielfalt und hyperrealistische Optik ein Publikumsrenner wurden. Natürlich gab es Bestseller wie Die Niagarafälle, die dem Adressaten zuriefen „Ich war hier (und du nicht)“, der überwiegende Teil der rund 10 000 Motive, die bis Ende der 50er Jahre bei Curt Teich & Co. erschienen, zeigten jedoch keine typischen Touristen-Ansichten, sondern thematisierten nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens Amerikas.
Der Band New West versammelt 500 Ansichten dieser Leinenpostkarten, welche die Entwicklung des amerikanischen Westens und das Selbstverständnis der Zeitgenossen auf einzigartige Weise dokumentieren: innovative Technik wie die San Francisco-Oakland Bay Bridge, auf der 1937 „45 Meilen Fahrgeschwindigkeit“ erlaubt waren, architektonische Errungenschaften wie das Los Angeles Biltmore Hotel, mit 1500 Zimmern 1936 das größte Hotel Westamerikas, Ansichten von kultivierter Landschaft wie den blühenden Obstplantagen in Kalifornien, Beispiele aus der Unterhaltungsindustrie wie dem Earl Carroll Theatre in Hollywood, einem der führenden Nachtclubs der Filmhauptstadt, exklusive Freizeitvergnügen wie Golfen und Wasserskifahren – und Skurriles wie Scotty’s Castle. Scotty, mit einem Stetson-Hut auf dem Kopf und die Hände in die Hüften gestemmt, posiert wie auf einem Selfie vor seinem Schloss im Death Valley. Allerdings ist das Schloss eher eine kleine Siedlung und gehörte ihm auch nicht wirklich, denn er war ein Hochstapler, der Beteiligungen an einer imaginären Goldmine verkaufte. 1940 wurde das Domizil jedoch mit einer Karte als herausragendes Beispiel landschaftlicher Inbesitznahme durch den Menschen gefeiert und ist bis heute nicht zuletzt wegen Scottys unglaublicher Geschichte ein Publikumsmagnet. um
New West Von Wolfgang Wagener, Leslie Erganian 320 Seiten, 500 Farbabbildungen Text: Englisch Hirmer Verlag € 49,90