Giorgio de Chirico

"Den logischen Sinn aufzugeben"

No. 04/2020

Kunstgeschichte wird aus der Perspektive einer sich ständig wandelnden Gegenwart fortlaufend neu geschrieben. Das gilt auch für die Jetztzeit, die unter dem Schatten der Covid-19-Pandemie steht. Eine Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle über den Maler Giorgio de Chirico, einem der großen Meister des 20. Jahrhunderts, zeigt, dass einige der zentralen Bildmotive de Chiricos von beklemmender  Aktualität sind.

Giorgio de Chirico, Das Gehirn des Kindes (Le Cerveau de l’enfant), 1914, Moderna Museet, Stockholm
© VG Bild-Kunst, Bonn 2020, Foto: © Moderna Museet/Stockholm

Die Versuche zur Eindämmung der aktuellen Pandemie zwingen Menschen weltweit zu massiven Einschränkungen in ihrer Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, der öffentliche Raum ist gefährlich geworden. Die Vereinzelung des Menschen und verwaiste Stadtlandschaften, wie wir sie derzeit erleben, machte sich bereits de Chirico (1888–1978) zum Thema. Er hatte die Vision großer, menschenleerer Plätze, die schon vor der Seuche eine befremdliche Stimmung ausstrahlten: Einerseits sind sie traumartig, bühnenhaft, von verführerischer Weite und erkennbar europäisch durch Architekturzitate aus Paris, München, Turin oder Ferrara, andererseits hat der Maler sie durch einen subtilen Bildaufbau, irreale Größenverhältnisse und falsche Perspektiven so konstruiert, dass sie verstörend wirken.

1917 entwickelte de Chirico mit seinem Bruder Alberto Savinio und seinem Malerfreund Carlo Carrà die „Metaphysische Malerei“. Er schreibt 1919: „Doch sehe ich selbst in dem Wort „metaphysisch“ gar nichts Düsteres; es ist die Ruhe und die sinnlose Schönheit der Materie, die mir ,metaphysisch‘ erscheint.“ Und weiter: „Wir Maler sind nicht als erste auf die Idee gekommen, in der Kunst den logischen Sinn aufzugeben. Gerechterweise muss man das Nietzsche zubilligen. In der Poesie hat sie der Franzose Rimbaud als erster verwirklicht, in der Malerei gehört der Primat dem Unterzeichneten.“ Nirgendwo werden de Chiricos Plätze und Innenräume von Menschen bevölkert, sondern von antiken Statuen, Gipsfiguren und vor allem von gesichts- und leblosen Gliederpuppen (manichini), die ab 1914 in seinem Werk immer häufiger auftreten. Er wollte damit Zeitlichkeit und Historizität seiner Kunstwerke überwinden. wr

Cover für Giorgio De ChiricoGiorgio de Chirico. Magische Wirklichkeit
22. Januar bis 25. April 2021
Hamburger Kunsthalle
Ausstellungskatalog
Hirmer Verlag € 34,90