Experimentierfeld Gesicht

Porträtfotografie der Zwischenkriegszeit

No. 01/2021

Das Medium schlechthin der Avantgarden in den 20er und frühen 30er Jahren des 20. Jahrhunderts war die Fotografie: unverbraucht, formal wie technisch unausgereift und entwicklungsfähig, und doch in ihrem Ausdruckspotenzial bereits über das Stadium des Zufälligen und Unkontrollierbaren weit hinaus.

August Sander, Handlanger, 1928
© Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – August Sander Archiv, Köln; BILDRECHT, Wien, 2020

Im Visuellen konnten nun Wirklichkeit und Verfremdung in Eins fallen und innovative Stilmittel ließen sich erproben, verfeinern und zwischen Belichtung und Abzug vielfach neu justieren. Genau diese Beweglichkeit war es, die die Fotografie für die neue Kunst so attraktiv machte: Die Skepsis, die der Erste Weltkrieg hinterlassen hatte, verlangte nach dem ganz Anderen, Ungesehenen und Unkorrumpierten, war doch das Eindeutige und damit gefährlichen Idealen Dienende ein für alle Mal disqualifiziert.

Faces ist eine Ausstellung, die in fesselnder Intensität und facettenreich am Bild vom Menschen die neuen Dimensionen aufzeigt, die sich die Fotografie in dieser Zeit erschließt. Es lässt staunen, mit welcher Nonchalance das Medium seine Möglichkeiten ausspielt zwischen einem Gesicht, das in einer ausgeklügelten Mischung aus Studiobeleuchtung und natürlichem Licht zu einer zerklüfteten Plastizität gebracht ist, und einem anderen, das derart überbelichtet und überblendet wird, dass es vollends an Dreidimensionalität verliert, zugunsten einer schemenhaften Bildautonomie. Hier geht es nicht um Charakter- oder Standesporträts, sondern primär um die Schaffung einer Kunstfigur. So notierte Siegfried Kracauer über Helmar Lerskis 1935/36 entstandene Verwandlungen durch Licht, die in fast 140 Variationen denselben Mann zeigen, dass keine der Aufnahmen Ähnlichkeit mit dem Modell habe – erstaunlich für ein Medium, dem von Anfang an der Vorwurf galt, dass es „nur“ abbilde.

Helmar Lerski, Verwandlungen durch Licht, 588, 1935/36, Albertina, Wien
© Nachlass Helmar Lerski – Museum Folkwang, Essen

Und natürlich spiegeln diese Fotografien von Menschen auch immer die Phänomene ihrer Entstehungszeit: Das Exzentrische, der Glamour, die Halbwelt sind in ihnen ebenso präsent wie das prekäre Leben des Proletariats, das August Sander mit monumentaler Ehrlichkeit ins Bild setzt. Lotte Jacobi, Annelise Kretschmer und Marta Astfalck-Vietz besetzen als Fotografinnen mit ihren Fetischen der Mode Positionen erotischer Inszenierung. Versiert planen sie ihre schwarz-weißen Schattenspiele, wie auch Umbo, Franz Roh oder László Moholy-Nagy, mit Maskierungen, Fragmentierungen und Doppelungen als Mittel surrealer Verrätselung und Attraktion. Psychotische Erfahrungen werden in den Bildern Jozef Glogowskis, Suse Byks oder Franz Setzers zugelassen und machen damit die naheliegende Verbindung zum zeitgenössischen Film erkennbar. Schließlich erlaubt die Verwendung neuer, leichter Kameras mit kurzen Belichtungszeiten die schnelle Reaktion und bringt Elemente der Reportage in die Begegnung mit dem Motiv.

Getragen wird die herausragende Qualität der Schau durch die Sammlungen der Albertina in Wien, des Essener Folkwang-Museums sowie spezialisierter Privatsammlungen und Galerien. Im gleichnamigen Begleitkatalog mit dem Untertitel Macht des Gesichts zeigen die Autoren aus unterschiedlichen Blickwinkeln auch die Macht des Verlangens nach Aufbruch und Neuer Zeit, in deren Suggestionskraft sich bereits das Unheil der 30er Jahre ankündigt. mk

Cover für Faces - The Power of the Human VisageFaces - Die Macht des Gesichts
Bis 24. Mai 2021
Albertina, Wien
Ausstellungskatalog
Text: Deutsch u. Englisch in getrennten Ausgaben
Hirmer Verlag € 45,–