Die Fotografie als Reservoir

Eine neue Facette von Andy Warhols Werk

No. 04/2015

Inspiriert von Künstlern wie Matisse, die das Medium der Monotypie und andere Kopiertechniken nutzten, schuf Andy Warhol ab den späten 1940er Jahren eine Vielzahl von Illustrationen. Für eine gelang es dem Kuratorenteam in Kooperation mit dem Leihgeber Daniel Blau, viele der erst 2011 entdeckten Zeichnungen jenen fotografischen Vorlagen gegenüberzustellen, die Warhol sammelte und in seinem typischen „blotted line“-Verfahren zu individuellen Bildern verarbeitete.

United Jewish Appeal Anzeige, LIFE, 2. April 1951, Seite 86

United Jewish Appeal Anzeige, LIFE, 2. April 1951, Seite 86 © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts , Inc.

Andy Warhol, ohne Titel (Mother Embracing Girl), ca. 1955

Andy Warhol, ohne Titel (Mother Embracing Girl), ca. 1955 © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts , Inc.

 

Es begann mit einem Studentenjob. Andy Warhol, der an der Universität in Pittsburgh studierte, verdiente sich sein Zubrot im größten Kaufhaus der Stadt und erhielt den Auftrag, in Illustrierten nach Ideen für die Schaufenstergestaltung zu suchen. „I never read, I just look at pictures“, beschrieb er seine Motivsuche in Hochglanzmagazinen wie Life. Dabei fokussierte er sich auf eine Vielzahl von Personen, allein oder paarweise, Frauen, Männer oder Kinder, welche er in ihrer Pose aus dem Zusammenhang isolierte und mit markanten Strichen in neue Erlebniswelten überführte. Wegweisend für seinen grafischen Umgang war eine Illustration für die Kurzgeschichte Vega von John Cheever, die 1949 in Harper’s Magazine veröffentlicht wurde. Hierfür verwendete er die Fotografie eines Waisenmädchens, die er mit seiner beliebten Technik verfremdete: das Abklatschverfahren „blotted line“, bei dem er zunächst die Fotografie mit Pauspapier und Bleistift kopierte, die Linie mit Tusche nachzog und noch feucht auf Papier presste, um dann ein Spiegelbild in jenen durchbrochenen Linien zu erhalten, die den Bildern Anmut und Sensibilität verleihen. Aus dem sensationellen Fund von rund 400 Zeichnungen zeigt die Graphische Sammlung der ETH Zürich einige Blätter, deren Bildquellen identifiziert werden konnten und den Weg zu den Siebdrucken der 1960er Jahre weisen, wie die Zeichnung Mother Embracing Girl, die exemplarisch für die Bilderwelt Amerikas in den Nachkriegsjahren steht. Gegenüber der Vorlage vernachlässigte Warhol das angstvolle Moment und rückte die Vertrautheit von Mutter und Kind in den Vordergrund. af

978-3-7774-2438-5Andy Warhol
The Life Years 1949–1959 
Bis 17. Januar 2016 
Graphische Sammlung ETH Zürich

Hg. Graphische Sammlung ETH Zürich
Katalog Hirmer Verlag € 34,90