Das Tor zu Babel

Erinnerungen an 1913

No. 01/2019

Von Maria Bronner

Im Pergamonmuseum zu Berlin findet sich seit 1930 das sogenannte Ischtar-Tor aus Babylon mit einem Reliefschmuck aus bunt glasierten Ziegeln. Kenah Cusanits Roman Babel erzählt, was diesem prächtigen Monument zunächst am Herkunftsort, dann sorgfältig in 399 Kisten verpackt auf den Transport wartend, Anfang des 20 Jahrhunderts zugestoßen ist. Lange vor dieser bisweilen unrühmlichen Episode war das Tor Teil der Stadtmauer von Babylon und eines von fünf Stadttoren. Es wurde vor 2600 Jahren von Nebukadnezar II. errichtet und gehört damit zu den jüngeren Funden der Ausgrabungen.

Der 2019 im Hanser Verlag erschienene Roman liefert auf 267 Seiten eine Darstellung der von 1899 bis 1917 währenden Ausgrabungen der Stadt Babylon im Zweistromland, eine der ersten Hochkulturen, von Cusanit fragmentarisch und subtil in Szene gesetzt. Die Autorin, die selbst Altorientalistik und Ethnologie studierte, hat sich Robert Koldewey, den Leiter der Ausgrabungen, zur Hauptfigur auserkoren und dessen Aufzeichnungen sowie umfangreiche zeitgeschichtliche Dokumente gesichtet. Die Geschichte entspinnt sich aus einem Erinnerungsstrom aus Tagebucheinträgen, Arbeiterlisten, Brieffragmenten und Telegrammabschriften – ob diese echt oder fiktiv sind, bleibt den Vermutungen des Lesers überlassen. Dies erscheint bei einem Buch, das sich einem Stück Erinnerungskultur widmet, als passende Erzähltechnik, obwohl die historisch existierende Figur Koldewey nicht immer schlüssig erscheint: So denkt dieser beispielsweise Dinge, die er im Handlungsjahr 1913 so nicht gedacht haben wird, und übt Kritik am Positivismus der Moderne, die etwas zutiefst Nachkriegszeitliches ist.

Geradezu maskulin überspitzt wirkt sein Verhalten, wenn er im ersten Kapitel des Buches seine Blinddarmentzündung, die ihn an seine Kammer fesselt –zum Entsetzen seines ungeliebten Assistenten – eigenmächtig mit dem Konsum einer Flasche Rizinusöl kuriert und sich dann im zweiten Teil des Buches, entgegen der Anweisungen seines medizinischen Handbuchs – „nicht bewegen!“ –, völlig schmerzfrei durch das Grabungsareal spaziert, um die fabelhafte Miss Gertrude Bell bei den Überresten des Turms zu Babel zu treffen. Der geniale, von der leitenden Verwaltung der Museen im fernen Berlin auch als Enfant terrible gefürchtete Wissenschaftler erinnert damit ein wenig an die intellektuelle Version eines Karl-May-Helden, der wohlwollend und freundlich die Autoritäten herausfordert, aber dennoch ein Vertreter der herrschenden Klasse des ausgehenden kolonialen Zeitalters ist. Auch wenn Koldeweys Wesen manchmal beliebig erscheinen mag und dieser ausgehend von seinen Erfahrungen vergleichende Überlegungen zwischen „hier“ – nämlich der Ausgrabungsfläche nahe des heutigen Bagdads – und „dort“ – dem Berlin der ausgehenden Kaiserzeit – anstellt, hätte stärker betont werden können, dass die europäische Kultur als eine von vielen Denk- und Wertesystemen nicht universell gültig ist.

Koldewey als Professor ist es nicht daran gelegen, die westliche Kultur zu analysieren – er bleibt Teil seiner Gesellschaft und erlebt eher selten Momente der Andersartigkeit: Als er etwa bei Kaiser Wilhelm II. zum privaten Tee geladen wird, fühlt er sich zwar ein wenig fremd, bringt es aber mühelos fertig, in die Rolle des gefeierten Grabungsleiters zu schlüpfen. Und obwohl sich Koldewey fragt, ob es nicht in Ordnung sei, dass die Bausubstanz des alten Babylon in Neubauten der umliegenden Dörfer aufgeht, wenn also recycelt statt konserviert wird, werden die Aktivitäten des Grabungsteams in der Gesamtdarstellung des Buchs nicht auf eine politisch legitimierte Form des Kunstraubs degradiert, die aus Sicht der arabischen Bevölkerung durchaus Sinn machen könnte.

Der Leserin erscheint die Erhaltung der archäologischen Funde natürlicher als die Wiederverwendung alter Ziegel für neue Häuser. Cusanit reproduziert sogar mehrfach die Vorstellung, dass unterschiedlich entwickelte Gesellschaften existieren – der Orient als Heimat schießwütiger Scheichs wird eben als das exotische Andere präsentiert, über dessen Abgrenzung sich das Eigene legitimiert und definiert. Insofern ist der Text nicht nur mit zahlreichen Hinweisen auf moderne „-ismen“ und die sie umgebenden Debatten unterfüttert, er folgt selbst der Logik des Orientalismus und entwirft einen Orient, der uralt, wild, aufregend, mystisch und so ganz anders ist. Und auch mit Koldewey schafft Cusanit die Figur eines kauzigen, jedoch zutiefst sympathischen Genius, der die Liebe zu den architektonischen Kunstschätzen über seine staatsbürgerlichen Pflichten stellt – etwa wenn er in einem Moment der Vorsehung die Verantwortung der Funde dem ausgemachten Feind, den Engländern, in der Person einer Getrude Bell übergibt. Die Legende besagt, dass nur aufgrund dieser persönlichen Bande die bereits verpackten Fliesenscherben später ihren Weg aus dem britischen Protektorat in die Weimarer Republik finden. Koldewey und der ihn umgebende Zeitgeist wird durch das Buch somit nicht dekonstruiert, sondern vielmehr glorifiziert.

Der anekdotenhafte Erzählstil und die Komposition der Themen und Erinnerungsfetzen in Koldeweys Gedankenstrom ermöglichen ein sehr plastisches literarisches Erleben von Historie. Die Lektüre des Romans ist ein Genuss und erweitert zudem populäres historisches Wissen – nach dem Lesen bleibt das befriedigende Gefühl, dass die eigene Gegenwart auf einmal dichter und tiefer in der Zeit verwurzelt ist als noch vor dem Aufklappen des Bandes. Das liegt an der exzellent recherchierten altbabylonischen und biblischen Geschichte und Kultur, die mit den Ereignissen kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verknüpft werden und gemeinsam der Handlung eine Bühne bereiten. Es ist äußerst erbaulich, zu lesen, wie Koldewey innerhalb der vielfältigen politischen Konfliktfelder seiner Zeit laboriert. Genauso spannend ist es, dem Kräftemessen all jener beizuwohnen, die ein Stück vom Grabungskuchen abhaben möchten. Cusanit beschreibt mit subtilem Humor nicht nur das Konkurrenzdenken zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch derselben mit Akteuren wie der deutschen Orientgesellschaft, die sich neben geistiger auch politische Rendite erhoffte. Immer wieder erlebt man Momente spätkolonialen deutschen Größenwahns, wenn etwa beim erwähnten Nachmittagstee über die koloniale und kulturelle Eroberung der Welt geplänkelt wird und sich der letzte deutsche Kaiser zum Erben Nebukadnezars stilisiert.

Cusanit schildert auf charmante Weise, welchen Gegebenheiten das Tor seine Bleibe in Berlin zu verdanken hat, und ruft in Erinnerung, dass man bei Ereignissen von Weltrang niemals banale Elemente außer Acht lassen sollte, in diesem Fall die Freundschaft zweier Despoten, Wilhelm II. und Mehmed, dem letzten Sultan des osmanischen Reichs. Mit dem Ende der Kolonialreiche entflammte eine Debatte um die Rückgabeforderungen, die aktuell wieder an Fahrt gewinnt. Die Frage, was ein Kulturschatz ist, wem er gehört und wo er sein sollte, ist juristisch kaum zu beantworten und zutiefst moralisch. Sie berührt nicht nur Besitzverhältnisse, sondern auch Ansprüche der Öffentlichkeit, Authentizität, Identitäten, Interpretationshoheiten, Verantwortlichkeiten und die Frage, wer den Wert der Kunstwerke festzulegen hat und wer an ihnen verdient. Beim Ischtar-Tor ist dieses Spannungsfeld sogar vergleichsweise wenig behandelt worden, und weder die Türkei noch der Irak haben bislang Ansprüche angemeldet. Im Gegensatz zu anderen Exponaten – Schiffsschnäbeln oder Masken –, die aus Gesellschaften mit komplett konträren, noch dazu nicht verschriftlichten Eigentumsbegriffen stammen und deren Nachfolgerinnen ihr Recht auf Erinnerung einklagen, haben wir es hier mit den Schätzen einer bereits untergegangenen Kultur zu tun, die keine Forderungen mehr stellen kann. Die Denkmäler wurden weder durch eine Besatzungsmacht gehoben noch weggeschafft, alle Aktivitäten waren über den offiziellen Amtsweg legitimiert.

Anhand dieser Geschichte zeigt sich, dass hier nicht nur viel Raum für Verhandlungen ist, sondern auch, wie tief Kunstgegenstände in politische und wirtschaftliche Dimensionen verstrickt sind. Der im November letzten Jahres von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr veröffentlichte Bericht zum Umgang mit kolonialen Kulturkollektionen wurde vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron veröffentlicht, der prompt gelobte, den Forderungen der beiden Autoren nach einer vollständigen Rückgabe weitgehend nachzukommen. Seitdem tobt ein Sturm durch westliche Museen und Feuilletons. In diesem Monat wird der Bericht in deutscher Sprache erscheinen. Damit hat Kenah Cusanit einen absoluten Treffer gelandet – die alte Handlung, die sich auf einem uralten Schauplatz zuträgt, ist topaktuell.

BabelBabel
Roman von Kenah Cusanit
272 Seiten, gebunden
Hanser Verlag € 23,-