30 Jahre Kirchner Museum Davos

Experten sprechen über Museumsarchitektur im 21. Jahrhundert

No. 01/2023

Das Kirchner Museum Davos als vormals visionärer Museumsbau feiert sein 30-jähriges Bestehen. Im Zuge der Vorbereitungen der Jubiläumsausstellung Gigon/Guyer. Kirchner Museum revisited traf Katharina Beisiegel, Direktorin des Kirchner Museum Davos, die Architekt*innen Annette Gigon und Mike Guyer zu einem Gespräch, das in der Begleitpublikation zur Ausstellung in voller Länge abgedruckt ist. Exklusiv in dieser Ausgabe von Fresko finden Sie einen Auszug aus der Unterhaltung, die sich um die Entstehungsgeschichte des Davoser Museumsbaus dreht und die Frage, wie sich Museen, Architekturen und ihre Erbauer für die Zukunft wappnen müssen.

Ausstellungsansicht Gigon/Guyer. Kirchner Museum revisited Foto: Seraina Wirz, Zürich

Katharina Beisiegel (KB) Wir sehen anhand der vielen Museumstrends seit den 1970er Jahren einen gesellschaftlichen Wandel. Denken wir zum Beispiel an die sogenannten Bilbao Babys oder die musealen Leuchttürme privater Sammler der frühen 2000er Jahre, dann stand lange eine gewisse Opulenz und architektonische Spielfreiheit im Zentrum. 20 Jahre später bewegen uns Fragen zu Nachhaltigkeit und Klima, die eine durchaus existenzielle Note annehmen. Man muss sich fragen, ob große Räume, die ständig gekühlt oder beheizt werden müssen, überhaupt noch gebaut werden dürften. Wie sehr beschäftigen euch heute Nachhaltigkeit und CO2-Ausstoß?

Annette Gigon/Mike Guyer (G/G) Es ist das Thema, das sich für uns alle nun in den Vordergrund schiebt – und wir haben in den letzten Jahren begonnen, unsere Arbeit durch die Linse dieses unsichtbaren, ungiftigen Spurengases zu betrachten. Ein Gas, das wir selber ausatmen, das die Pflanzen für die Photosynthese brauchen – dessen Konzentration aber in der Atmosphäre Jahr für Jahr ansteigt, sich über Jahrhunderte nur marginal abbaut und unseren Planeten immer weiter aufheizt.

Wir haben anlässlich eines Ausstellungsbeitrags mit dem Titel Werk-Stoff-Wechsel in der Akademie der Künste in Berlin 2020 einen kritischen Blick auf unser eigenes Schaffen geworfen. Und wir arbeiten an unserer Professur an der ETH daran, griffige, verlässliche Daten als Grundlage für die Nachhaltigkeitsdiskussion in unserem Arbeitsgebiet bereitzustellen – wir meinen, dass wir Architekt*innen das nicht mehr nur an Spezialisten delegieren dürfen. Wir planen zurzeit ein Bürogebäude mit dicken, dämmenden und wärmespeichernden Wänden sowie einem niedrigen Fensteranteil, das weitestgehend ohne Heizung und mechanische Lüftung auskommen wird. Andernorts projektieren wir ein Hochhaus, dessen Rohbau ein Drittel leichter sein wird als eine konventionelle Konstruktion und diesbezüglich 35 Prozent CO2-Emissionen einspart. Mit Photovoltaik auf Dächern arbeiten wir schon seit Längerem. Aber an den Fassaden ist es nach wie vor eine gestalterische Herausforderung. Ein neues Gebäude für das Verkehrshaus der Schweiz wird unser erstes mit PV-Fassade sein – hier in Zusammenarbeit mit dem Künstler und Architekten Urs Beat Roth.

KB Ihr habt mit dem Kirchner Museum 1992 diesem Thema für die damalige Zeit viel Aufmerksamkeit gewidmet, habt zum Beispiel die Isolierungsschicht dicker gemacht, als es üblich war, habt weißes Altglas auf das Dach gelegt und Tageslicht für die Beleuchtung mitbedacht, Wärme- und Kältespeicher vorgesehen. Wenn ihr heute das Museum nochmal bauen könntet, was würdet ihr anders machen?

G/G Vieles würden wir wieder gleich machen, etwa die Konzeption in Grundriss und Schnitt. Aber wir würden die Dämmstärken nochmals erhöhen, Dreifach-Isolierverglasungen nehmen – die gab es damals noch nicht – und versuchen, trotz artesisch gespannter Wässer im tieferen Untergrund, das Gebäude mit Erdsonden zu heizen und zu kühlen oder allenfalls das Grundwasser dafür zu nutzen. Das wären kaum sichtbare Maßnahmen, aber sie gehören zu den effektivsten, um den betrieblichen CO2-Fußabdruck von Gebäuden erheblich zu reduzieren.

KB Seit zwölf Jahren seid ihr auch ordentliche Professor*innen für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich und habt Studierende in die Arbeitswelt begleitet. Was seht ihr als die größten Herausforderungen für die nächsten 30 Jahre?

G/G Wir haben die Zeit genutzt, um ganz verschiedene Themen zu bearbeiten, die wir wichtig fanden für die Ausbildung der Studierenden: typologische, stoffliche, räumliche, strukturelle, künstlerische Fragen, in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Medien wie Film oder Fotografie, Theater, Kunst und Spezialist*innen für Tragstruktur, Landschaftsarchitektur, Gebäudesysteme, Urbanistik oder Soziologie. Mit dem Streben nach polyvalenten Nutzungen, mehr Gemeinschaftlichkeit, verstärkter Einbindung in die Umgebung und qualitätsvollen Freiräumen sowie dem Fokus auf leichte Tragstrukturen, intelligente Fassaden, Begrünungen und insbesondere auch dem Erhalt von Bestandsbauten suchen wir derzeit nach Architekturen, die trotz all der Anforderungen räumlich, gestalterisch und emotional überzeugen. Was uns wiederholt beschäftigt, ist der Versuch, einen breiteren Überblick zum Thema Energie und Treibhausgase zu bekommen, zuerst auf dem Gebiet des Lebenszyklus von Gebäuden und darüber hinaus im Zusammenhang mit unserem Alltag, unserer Lebensweise. Eine Art Selbstaufklärung, manchmal nennen wir es auch „Alphabetisierung“, die dringend und rasch nötig ist. Einen substanziellen Beitrag auf dem Weg in Richtung Klimaneutralität leisten zu können, das ist der Anspruch an die Architektur und wird sie in den kommenden Jahrzehnten prägen. Dazu gehört aber auch die Einsicht, dass wir von einem wirklich klimaneutralen Bauen und Leben heute noch weit entfernt sind.

Cover für Gigon / Guyer. Kirchner Museum revisitedGigon/Guyer.Kirchner Museum revisited
Hrsg. von Katharina Beisiegel, Annette Gigon, Mike Guyer
Premiumausgabe:
Schweizer Pappband mit sichtbarer Fadenheftung
dreiseitig beschnitten 

Hirmer Verlag € 49,90