Russische Avantgarden

Die Highlights der Moderne unter einem Dach

Alternativ Abbildung Russische Avantgarde 2

Boris Grigorjew, Porträt des Theaterregisseurs Wsewolod Meyerhold, 1916,Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg

No. 01/2016

Von Wilfried Rogasch

Der Wiener Albertina, unter ihrem umtriebigen Direktor seit Jahren zuverlässiger Garant für Blockbuster-Ausstellungen, ist auch 2016 ein großer Wurf gelungen, der einen Besuch der österreichischen Hauptstadt während der Dauer der aktuellen Schau lohnend macht. Sie trägt den Titel Von Chagall bis Malewitsch – Die russischen Avantgarden.

Der Begriff Avantgarde stammt aus dem französischen militärischen Fachvokabular: Man bezeichnet damit die Vorhut einer Armee, die als erste vorrückt und Feindkontakt hat. Der deutsche Terminus „Vorreiterrolle“ lässt noch den militärischen Ursprung erkennen. Im Bereich der Kunstgeschichte versteht man unter Avantgarde eine künstlerische Bewegung, die radikal mit der Vergangenheit und den ästhetischen Normen der Gegenwart bricht und sich der Idee des Fortschritts verpflichtet fühlt. Entscheidend für das Konzept der Wiener Schau ist, dass der Begriff im Ausstellungstitel im Plural erscheint. Die zentrale These der Ausstellung besagt nämlich, dass es im Zeitraum von 1905 bis 1935 nicht eine einzige russische Avantgarde gab, sondern eine Vielfalt unterschiedlicher, oft konträrer Erneuerungsbewegungen. Der Direktor der Albertina Klaus Albrecht Schröder zitiert den Philosophen Ernst Bloch, der den Begriff „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitige“ geprägt hat, mit dem man die komplizierte künstlerische Gemengelage der russischen Kunst jener drei Jahrzehnte umschreiben kann.

Spannend sind die Beziehungen der russischen künstlerischen Avantgarden zu den politischen Avantgarden der Zeit, insbesondere zum Marxismus-Leninismus. Dieser unterstützte zunächst fortschrittliche Kunstrichtungen. In der Zeit des Stalinismus jedoch unterband Josef Stalin jegliche avantgardistischen Tendenzen und postulierte den kaum fortschrittlich zu nennenden „Sozialistischen Realismus“ als einzige staatlich anerkannte und zentral gelenkte Stilrichtung. Künstler in der Sowjetunion mussten sich von ihrem früheren Schaffen öffentlich distanzieren. Viele russische Künstler lebten aber auch im Ausland, insbesondere in Paris und in der Weimarer Republik, wo Stilpluralismus herrschte und sie nicht durch staatliche Bevormundungen in ihrem Schaffen behindert wurden.

Preziosen aus St. Petersburg

Die Ausstellung umfasst 130 Gemälde und Zeichnungen. Sie entstand in Zusammenarbeit mit dem Russischen Museum St. Petersburg, welches die Schau mit Hauptwerken seiner Sammlung großzügig bestückt hat. Aber auch Leihgaben anderer Museen und Privatsammlungen, etwa aus Amsterdam, Paris, Madrid, Bern, Basel und Vaduz, illustrieren die Vielfalt künstlerischer Positionen.

Einige ausgestellte Künstler wie Marc Chagall, Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlansky, El Lissitzky, Kasimir Malewitsch und Wladimier Tatlin sind dem westlichen Publikum bekannt, weil sie in Westeuropa gelebt haben und hier in Museen vertreten sind. Andere wie Michail Larionow, Wladimir Lebedew, Aristarch Lentulow und Kusma Petrow-Wodkin gilt es es zu entdecken.

Natalia Gontscharowa, Radfahrer, 1913, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg

Natalia Gontscharowa, Radfahrer, 1913, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg

Der leichtfüßige, optimistische „Malerpoet“ Chagall zählt seit fast 100 Jahren zu den Publikumslieblingen – seine schwebenden Traumfantasien vom russisch-jüdischen Schtetl, vom Zirkus, von Tieren, romantischer Liebe und Motiven aus der Bibel bezaubern bis heute. Für Chagall war die Kunst „die Sprache, in der sich die Magie der Welt ausdrücken ließ“. Allein 20 seiner Hauptwerke sind in der Albertina ausgestellt. Chagall ist ein einzigartiger Maler, der keine Kunstschule oder Stilrichtung gegründet hat.

Ganz anders Kandinsky und Malewitsch, die beide ungeheuren Einfluss auf ihre Schüler wie auch auf die Kunstgeschichte im Allgemeinen ausübten. Kandinsky, den Münchnern bekannt als Mitglied des „Blauen Reiters“, gilt zugleich als wichtiger Wegbereiter der Abstrakten Kunst. Als Lehrer am Bauhaus in Weimar und Dessau beeinflusste er bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 eine ganze Generation von Schülern. Die Ausstellung zeigt neun seiner Werke. Kasimir Malewitsch gehörte zu den Künstlern, die in der stalinistischen Sowjetunion verblieben. Sein 1915 entstandenes Werk Schwarzes Quadrat auf weißem Grund zählt zu den Schlüsselwerken der Kunst des 20. Jahrhunderts. Es wurde in einer Galerie in Petrograd, wie St. Petersburg seit Kriegsbeginn 1914 hieß, neben anderen Werken von Malewitsch ausgestellt und nahm eine Position in einer Ecke unterhalb der Decke ein, die in russischen Häusern für christliche Ikonen reserviert war. Aufgrund staatlicher Verfolgung wandte sich Malewitsch von 1929 bis zu seinem Tod 1935 erneut der gegenständlichen Malerei zu. Zu den 16 ausgestellten Bildern des Künstlers zählt auch eine Fassung des Schwarzen Quadrates von 1923 sowie eindrucksvolle Porträts aus den 1930er Jahren.

Chagall bis Malewitsch Die Russischen Avantgarden
Chagall bis Malewitsch
Die Russischen Avantgarden
Bis 26. Juni 2016 Albertina, Wien
Ausstellungskatalog 
Hrsg. von K.A. Schröder
Deutsch/Englisch
Hirmer Verlag € 49,90