Lyonel Feininger

„Mit lokomotivartiger Leidenschaft“

No. 03/2023

Für einen der bedeutendsten Künstler der Moderne öffnet die Schirn Kunsthalle Frankfurt in Kürze ihre Ausstellungsräume. Die erste große Retrospektive seit über 25 Jahren in Deutschland wird das Gesamtwerk von Lyonel Feininger aus 60 Schaffensjahren beleuchten und verspricht trotz aller Bekanntheit überraschende Einblicke in seine unterschiedlichen Themen, Motive und künstlerischen Techniken.

Lyonel Feininger, Selbstporträt, 1915, Foto © The Museum of Fine Arts, Houston, VG Bild-Kunst, Bonn 2023

In Paris beginnt für Lyonel Feininger 1907/08 ein neuer Lebensabschnitt. Nachdem er jahrelang humoristische und politische Karikaturen für verschiedene Zeitschriften als Auftragsarbeiten gezeichnet hatte, will er sich nun als unabhängiger Künstler beweisen. An seine zukünftige Frau Julia schreibt er: „Nicht umsonst fängt man mit 36 Jahren als vergnügter Greis an zu malen und malt mit lokomotivartiger Leidenschaft 8–10 Stunden täglich.“ Zwischen 1907 und 1911 entstehen die sogenannten Karnevals- oder Mummenschanz-Bilder mit altmodisch gekleideten Figuren wie aus den Romanen von Honoré de Balzac, Stendhal oder Victor Hugo entsprungen. In Paris begegnet Feininger dem Kubismus, den er mit seinen berühmten prismatisch aufgebrochenen, monumentalen Architekturdarstellungen neu interpretiert. Seit 1913 wieder in Deutschland ansässig, wird Feininger 1919 an das Staatliche Bauhaus in Weimar berufen und leitet dort die Druckwerkstatt. Als die Schule 1925 nach Dessau umzieht, übersiedelt Feininger mit seiner Familie in eines der Meisterhäuser, wobei er keine Lehrverpflichtung mehr eingeht. In den folgenden Jahren wird Feininger zu einem der wichtigsten Künstler der Moderne in Deutschland. Nachdem das Bauhaus unter dem wachsenden politischen Einfluss der NSDAP geschlossen wird, zieht Feininger zunächst nach Berlin und emigriert 1936 mit seiner jüdischen Frau in die USA. In Deutschland als „entarteter“ Künstler verfemt, beginnt er in New York künstlerisch nur langsam Fuß zu fassen. 1953 schreibt er an seinen Sohn T. Lux: „Was ich wirklich misse, ist nach der Natur zeichnen und ,Notizen‘ zu machen, wie an der Ostsee, in Deep, oder in den Dörfern um Weimar. Irgendwie genügen mir die Motive hier nicht, sie enthalten so wenig von meinem inneren Wünschen […]“

Feiningers Begeisterung für das Technische, für Linien und Strukturen einerseits, seiner Sehnsucht nach Natur und der Freude am Selbstironischen, Grotesken, Fantastischen und Märchenhaften andererseits scheinen sich ebenso im Widerspruch zu bewegen wie sein formal vielschichtiges Œuvre, das neben den erwähnten Werkgruppen auch Spielzeug, Holzschnitte, Zeichnungen, Grafiken, das nahezu abstrakte Spätwerk und die erst vor wenigen Jahren wiederentdeckten und kaum bekannten Fotografien und Dias beinhaltet.

Die Ausstellung in Frankfurt ermöglicht anhand von rund 160 hochkarätigen Arbeiten einen umfassenden Blick auf Feiningers Gesamtwerk und zeigt, dass gerade die Widersprüche ein wesentlicher Teil seines unverwechselbaren Schaffens sind. cv

Lyonel Feininger. Retrospektive
27. Oktober 2023 bis 18. Februar 2024
Schirn Kunsthalle Frankfurt

Katalog zur Ausstellung
Hg. Ingrid Pfeiffer
deutsch- und englischsprachige Ausgabe
Hirmer Verlag € 49,90