JR. Chronicles

Die Gesichter der Gesichtslosen

No. 03/2022

Der französische Street-Art-Künstler JR (*1983) erregt mit seinen riesigen Fotoinstallationen, die er auf Containerschiffe, Eisenbahnwaggons, Häuserwände und Grenzzäune plakatiert, weltweit Aufsehen. Sie haben eine solche Wucht, dass schnell klar wird, dass er durch den konsequenten Einsatz des Mediums Fotografie die Straßenkunst revolutioniert hat. Noch bis zum 15. Januar zeigt die Kunsthalle München die bisher umfassendste Retrospektive seiner Kunstaktionen sowie Chronicles, die Hunderte von Porträts der Einwohner von Weltmetropolen zu bis zu zehn Meter langen Fotocollagen vereinen.

JR, Giants, Kikito and the Border Patrol, Tecate, Mexico, U.S.A., 2017 © JR-ART.NET

JR interessieren in seiner Fotografie ausnahmslos Menschen aus dem Volk. Auf übergroßen Formaten verleiht er den Übersehenen und Schwachen der Gesellschaft ein Gesicht, das er und sein Team vorzugsweise nachts in den öffentlichen Raum bringen. Im Schutz der Dunkelheit ziehen sie mit Leimkübeln und Malerpinseln los, um die „pastings“ an Häuserfassaden und Dächern zu plakatieren. Die Bezeichnung leitet sich von dem englischen Begriff „to paste“ ab, was mit „kleben“ übersetzt wird, und steht für die langen Papierbahnen mit den durch Nachbearbeitung deutlich verschärften Schwarzweiß-Fotos, die den bisher unbekannten Personen im Stadtpanorama plötzlich eine neue Bedeutung geben.

JRs Aktionen finden mittlerweile weltweit statt, oft an politischen Brennpunkten wie den Grenzmauern zwischen Israel und den Palästinensergebieten, den Favelas von Rio, den Slums in Neu-Delhi und Sierra Leone oder dem amerikanisch-mexikanischen Grenzzaun. Dort installierte JR auf der mexikanischen Seite das überlebensgroße Foto eines Kleinkinds, das, beide Hände am Zaun, neugierig über die Grenze schaut. Oft sind solche künstlerischen Interventionen illegal und verschwinden nach wenigen Tagen oder gar Stunden wieder. Auch das 45 Meter lange Transparent mit dem Foto der fünfjährigen Valeriia aus der Ukraine, das unlängst auf dem Münchner Odeonsplatz von über 100 freiwilligen Helfern ausgebreitet wurde, war nur einen Moment lang zu sehen. Genug Zeit, um eine klare Stellungnahme gegen ein humanitäres Verbrechen abzugeben und Gespräche anzuregen. Denn genau darum geht es JR: Die Leute sollen sich über seine Bilder unterhalten, sich miteinander austauschen.

Graffiti-Botschaften platzierte JR erstmals Anfang der 2000er Jahre in der Pariser Banlieue. Als 18-Jähriger fotografierte er damals in der Sozialwohnanlage in Cité des Bosquets Jugendliche jenseits gängiger Ghetto-Klischees und porträtierte sie so, wie sie gesehen werden wollten. Ihre Gesichter plakatierte er über zehn Stockwerke an den Wohnzimmerwänden eines Abbruchhauses. Während des Abrisses zeigte sich plötzlich auf der Abbruchfassade ein fantastischer Bildteppich aus farbigen Wänden und Grimasse ziehenden Jugendlichen.

In bester Street-Art-Tradition bleibt der bürgerliche Name von JR unbekannt. Nur wenige wissen, wo sich sein Studio in Paris befindet, und sein Gesicht verbirgt er bei seinen vielen öffentlichen Auftritten hinter einem Hipster-Outfit mit Sonnenbrille und Hut. ck

Cover für JR: ChroniclesJR: Chronicles
Bis 15. Januar Kunsthalle München
Katalog zur Ausstellung
240 Seiten, 220 Abbildungen in Farbe
Text: Deutsch
Hirmer Verlag € 39,90