Isaac Julien

Was Freiheit für mich bedeutet

No. 02/2023

Der britische Künstler Isaac Julien (*1960) lotet in seinen Filmen und Installationen einen vielschichtigen Begriff der Freiheit aus und lädt Betrachtende dabei auf radikal zärtliche Weise zur kritischen Auseinandersetzung mit ihren Sehgewohnheiten ein. Im Rahmen einer Einzelausstellung mit Stationen in London, Düsseldorf und Maastricht gelangt eine mehr als vier Jahrzehnte überspannende Werkauswahl des Künstlers erstmalig nach Deutschland.

Isaac Julien, Pas de Deux with Roses (Looking for Langston Vintage Series), 1989/2019
© Isaac Julien Courtesy the artist and Victoria Miro

Maria Balshaw, Direktorin der Londoner Tate, von der aus die Werke Isaac Juliens nach Düsseldorf reisen, bringt es in einem Interview auf den Punkt: Eine umfassende Retrospektive der aktivistisch wie multidisziplinären Arbeiten in seiner Heimatstadt London war „lange überfällig“ gewesen. Gleichermaßen für den deutschen Kunst-Kontext bereichernd, setzt sich die Film- und Videokunst des im East End geborenen Künstlers ebenso lyrisch wie kritisch mit Rassismen, Homofeindlichkeit, Migration und kolonialen Kontinuitäten auseinander. Dabei liegt das künstlerische Haupt-Œuvre Juliens in der konsequenten Grenzverwischung: Er bricht mit konventionellen Barrieren zwischen einzelnen künstlerischen Disziplinen, verwebt wissenschaftliche Erkenntnis mit kreativem Ausdruck, kontextualisiert eigene Erfahrungen zu kulturell-politischen Bewegungen und verbindet unterschiedliche zeitliche und geografische Dimensionen. Realität, Geschichte, Normen und Identitäten sind für Isaac Julien fluide, ambivalent und vor allem expansiv.

Die Ausstellung bringt beginnend mit ersten Arbeiten aus den 80er Jahren experimentelle Dokumentarfilme und großflächige Multiscreen-Installationen zusammen, in denen Julien sich über die Mittel der Musik, Choreografie, Malerei und Skulptur der Dekonstruktion fixierter Annahmen über Begehren, Geschichte und Kultur widmet. Diese Verbindung von politischem Aktivismus mit ästhetischer Bildgewalt zieht sich durch die gesamte Schaffensspanne des Künstlers. Deutlich erkennbar ist das bereits in seinen früheren Werken, wie der phantasmagorischen Filmmontage Looking for Langston (1989), die, inspiriert vom Dichter Langston Hughes, Stimmen schwarzer und queerer Kreativer der Harlem-Renaissance zentriert. Isaac Julien macht auch den räumlichen Kontext seiner Kunst zum Thema, das Museum: In Vagabondia (2000) beschwören die Träume und Fantasien einer schwarzen Restauratorin die verborgenen Geschichten von Ausstellungsstücken und Gemälden herauf und stehen damit für Juliens Auffassung des Museums als Ort der (Re)Imagination, in der Fantasie und Träume unterdrückte Geschichtsschreibungen hervorbringen können.

Die ultimativen Grenzen, an denen sich sein Werk unermüdlich abarbeitet, sind dabei nicht „einfach nur“ die der gesellschaftlichen Gegenwart oder gar der Identität, sondern die Grenzen des Sehens und Gesehen-Werdens. Es geht um ein Ent-Lernen eurozentrischer, heteronormativer, weißer Sehgewohnheiten, die das europäische Museum seit jeher privilegiert. Und es geht um das Er-Lernen neuer Gewohnheiten: achtsam und nuanciert hinzusehen, verschiedene Perspektiven einzunehmen und ins Blickfeld zu rücken.

Mit diesen Sichtweisen die Ausstellungen zu entdecken, ist das einfühlsame Lehrstück eines Künstlers, der die Betrachtenden durch seine Praktiken und Themen stets dazu auffordert, sich räumlich und inhaltlich immer wieder neu mit ihnen zu identifizieren. Hierin liegt dann wohl auch die Bedeutung der Freiheit für Isaac Julien: Freiheit darin, welche Geschichten erzählt und gezeigt werden und vor allem, auf welche Weise. sg

Isaac Julien
Bis 20. August 2023
Tate Britain, London
23. September bis 14. Januar 2024
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K21, Düsseldorf

Katalog zur Ausstellung
Premiumausgabe:Papierwechsel, mit Augmented-Reality-App nutzbar
Hirmer Verlag € 49,90

 

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