Havanna

Patchwork aus Normalität und Fotokulisse

No. 03/2018

Flanierende Passanten auf dem Paseo de Martí, Wäscheleinen mit feuchten Leintüchern zwischen korinthischen Säulen oder das verblassende Gesicht Che Guevaras auf einer bröckelnden Fassade – diese und viele andere Eindrücke hielt die Fotografin Eva-Maria Fahrner-Tutsek während ihrer Aufenthalte in Havanna fest. Das besondere „Kribbeln“ dieser Stadt, die „unter dem Kalten Krieg gelitten hat und nun zu neuem Leben erweckt wird“, sowie den Zugang der Fotografin zu ihrer Form der Streetphotography schildert Michael Freeman in folgendem Textauszug seines Essays für das Fotobuch Havana Short Shadows. Darin zitiert er den Schriftsteller Leonardo Padura, der sich in einem eigenen Beitrag Havanna poetisch nähert.

Calle San Ignacio, La Habana Vieja, Foto: Eva-Maria Fahrner-Tutsek, © Eva-Maria Fahrner-Tutsek

Von Michael Freeman

Havanna war aus fotografischer Sicht ein komplexes Gebilde, als Eva-Maria Fahrner-Tutsek sich dorthin aufmachte. Hinzu kam, dass die Mangelwirtschaft der Sonderperiode in den beiden vorangegangenen Jahren noch einmal deutlicher spürbar geworden war, bedingt durch den ökonomischen Rückzug Venezuelas, dessen Wirtschaft sich selbst im freien Fall befand. Dem Havanna des touristischen „Themenparks“ konnte Fahrner-Tutsek nur entkommen, indem sie La Habana Vieja und das Zentrum Straße für Straße aufmerksam durchstreifte, um den Blick für das Patchwork aus Normalität und touristischer Fotokulisse zu schärfen. Dass sie fließend Spanisch spricht, half ihr sicherlich bei notwendigen Verhandlungen. Doch war dies bei ihrem Stil des Fotografierens wohl meist nicht notwendig, denn sie verfährt ganz nach der klassischen Methode, streift umher, beobachtet, greift schnell zur Kamera, macht vor allem Nahaufnahmen.

Nähe ist neben dem Licht und dem richtigen Augenblick bei der Straßenfotografie entscheidend, denn dadurch wird der Betrachter in die Szene einbezogen. Das entgegengesetzte Verfahren – unbeteiligte Distanz – erfreute sich ab den 1970er Jahren starker Beliebtheit, wie an den Arbeiten von Stephen Shore, Lewis Baltz, Paul Graham und Andreas Gursky zu erkennen. Doch das  Zurücktreten des Fotografen bedeutet eben auch, sich aus der Szene völlig herauszuhalten und den Betrachter auf seine eigenen Interpretationsmuster zurückzuwerfen. Fahrner-Tutsek dagegen beschloss sehr bald, dass ihr der Kontext wichtig war und sie die Auswirkungen der erneuten Rezession auf das Leben der Habaneros zeigen wollte. Deshalb ging sie mit der Kamera nahe an die Menschen heran, fokussierte auf ihre Mimik, ihre Gestik und ihr Tun, um auf diese Weise den „schwierigen, zweifellos realeren, kubanischeren Alltag“ in der Stadt, so Padura, festzuhalten. Dies verlangt neben Nähe auch Genauigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit. Die Situation gibt alle Regeln vor, sie kann nicht manipuliert oder kontrolliert werden, und jede Intervention nimmt den Straßenszenen – in denen sich Paduras „Kuba der Kubaner“ zeigt – ihre Glaubwürdigkeit. Vor allem aber erfordert diese Nähe, was für die meisten konzeptuellen Fotokunstprojekte unabdingbar ist: Können. Beherrschung der Kamera, die Fähigkeit, den richtigen Bildausschnitt zu wählen, Lichteinfall und Komposition zu bestimmen, den entscheidenden Moment festzuhalten. Der richtige Augenblick ist in der Straßenfotografie äußerst flüchtig, und das beste Konzept taugt nichts, wenn es an der Fähigkeit zur Umsetzung fehlt. Was wir hier sehen – aus der Innenansicht des Alltagslebens auf der Straße – ist die Kunst des täglichen Sich-durchs-Leben-Schlagens: wie die Menschen in Havanna ihren normalen Beschäftigungen nachgehen (wobei sie häufig eben keine Beschäftigung haben), wie sie von Tag zu Tag weitermachen. Es ist auf den Bildern wenig Lebensfreude zu erkennen. Die Menschen wirken still, nachdenklich, enttäuscht, abwartend. Mit etwas Glück wird diese besondere Periode innerhalb der Sonderperiode, deren Auswirkungen mitten im Herzen von Havanna sichtbar sind, nur von kurzer Dauer sein. Aber sie verdient es, festgehalten zu werden, was hier in diesem Band geschieht.

Cover für Havana Eva-Maria Fahrner-Tutsek
Havana Short Shadows
Text: Deutsch/Englisch/Spanisch
164 Seiten,
60 Abbildungen in Farbe

Hirmer Verlag € 29,90