Halb Zitrone, halb Orange

Liebe und Erwachen in Marokko

No. 02/2021

Spätestens seit ihrem Romanerfolg Dann schlaf auch du, ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, zählt Leïla Slimani zu den wichtigsten und meistgelesenen Autorinnen Frankreichs. Nun hat sie mit Das Land der Anderen erneut gezeigt, warum ihre Stimme mittlerweile nicht nur in der literarischen, sondern auch in der politischen Landschaft Gewicht hat.

Mathilde, eine Elsässerin, und Amine, ein marokkanischer Offizier, verlieben sich während des Krieges, heiraten und ziehen 1947 gemeinsam in die Nähe der Stadt Meknès im Norden von Marokko, wo Amine von seinem Vater einige Hektar steiniges Land am Fuße des Atlasgebirges geerbt hatte. Dort wendet sich die Liebesgeschichte – gleichsam zerrissen und genährt von so vielen Einflüssen und Bedingungen wird sie zu etwas ganz anderem. Leïla Slimani hat die Familiensaga als Trilogie angelegt. Der nun vorliegende erste Band dreht sich um das politische und damit eng verknüpfte gesellschaftliche Klima dieser Zeit und ein Land, das hin- und hergerissen ist zwischen dem Drang nach Fortschritt und Wandel und dem Bedürfnis, Traditionen und Werte hochzuhalten. Es geht um das Schicksal der von den Franzosen Kolonisierten und, ein wiederkehrendes Thema bei Slimani, das Schicksal der Frauen. In Das Land der Anderen wird zwischen beidem eine Verbindung gezogen.

Mathilde kommt voller Lebenslust in Marokko an, doch schnell folgt Ernüchterung. Amine arbeitet verbissen daran, dem geerbten Grundstück ertragreiches Land abzuringen, während sich seine Frau um die beiden Kinder kümmert. Mit den ihr fremden Bräuchen und Regeln, insbesondere jenen, die nur für die Frauen zu gelten scheinen, versucht sich Mathilde abzufinden, schafft es jedoch nie, sich vollständig zu wandeln oder anzupassen. Doch auch Amine ist ein Anderer geworden, sowohl ihr gegenüber, aber auch dem Land, das nicht mehr seines ist. Er wird von den Besatzern herablassend behandelt und von den Besetzten zurückgewiesen, manchmal sogar verachtet. Irgendwann zieht Amine den Vergleich zwischen einem Baum, der zweierlei Früchte trägt, und seiner eigenen Geschichte und schafft es mithilfe dieser Metapher, sich auf tragische und doch rührende Weise gegenüber seiner Tochter zu öffnen.

Leïla Slimani gelingt es, dem Tragischen und Unfassbaren immer auch Wärme, Hoffnung und Mut entgegenzusetzen. Indem sie das Innenleben der Menschen gekonnt nach außen kehrt, erhält man vielfältige, teils ambivalente Sichtweisen über ein System und eine Zeit, über die immer noch zu wenig gesprochen wird. Auf die Fortsetzung, sprich die folgenden beiden Bände, darf man sehr gespannt sein. la

Das Land der Anderen
von Leïla Slimani
Aus dem Französischen
von Amelie Thoma
Gebunden, 384 Seiten
Luchterhand Literaturverlag € 22,-