Fresko-Kunsträtsel

No. 03/2017

WER BIN ICH?

Nach meinem Tod mit nur 25 Jahren wurden die Werke, die man in meinem Atelier gefunden hatte, vom Rahmen genommen, unsachgemäß in Kisten verpackt und auf dem Dachboden eingelagert. Die skandalösen Hintergründe, die mich dazu veranlasst hatten, meinem Leben selbst ein Ende zu setzen, wurden von meiner Familie so gut es ging geheim gehalten. Ich wurde vergessen. Erst 23 Jahre später zeigte mein Bruder einem Kunsthändler Bilder von mir, dieser erkannte sogleich mein außergewöhnliches Talent und organisierte noch im selben Jahr eine erste  Ausstellung, die sogar im Ausland große Erfolge feierte. Dann kam der Krieg, die Wirkung meiner Entdeckung
verpuffte im Chaos. Für meine Zeitgenossen war meine Kunst zu visionär, meine Bilder erschienen zu radikal, zu schockierend. Auch mein Professor an der Akademie runzelte die Stirn und gab mir in fast allen Fächern ein beschämendes „Genügend“. Nach drei Jahren unterbrach ich für längere Zeit die Kunstschule, vertiefte mein Wissen in Philosophie, Literatur und Musikwissenschaften und malte, was das Zeug hielt. Freundschaften pflegte ich nur sporadisch, zu den Künstlerkreisen meiner Stadt hatte ich keinen Kontakt. Opern und Konzerte waren hingegen meine große Leidenschaft.

Ein gutes Stichwort. Denn nachdem ich einen damals noch wenig bekannten  Komponisten und seine Frau kennenlernt hatte, begann ich bald darauf mit ihr eine leidenschaftliche Affäre. Dass mich ihr Mann in den ausgewählten Kreis seiner Bewunderer aufnahm, machte die Sache nicht einfacher. Während der gemeinsam verbrachten Sommerfrische in Oberösterreich wurden wir vom Ehemann in flagranti ertappt, es kam zum Eklat. Meine Geliebte verließ ihren Mann – jedoch nur für wenige Tage, um danach für immer zu ihm zurückzukehren. Durch die Affäre verlor ich all meine wichtigen Kontakte und geriet in eine totale gesellschaftliche Isolation. An einem Novemberabend nahm ich mir in meinem Atelier das Leben, dabei ging ich so gründlich vor, dass es auf keinen Fall ein Zurück gab. Zuvor hatte ich Dokumente und kompro-mittierende Briefe verbrannt, meine Bilder ließ ich jedoch unangetastet als mein Vermächtnis zurück. Neben etlichen Selbstbildnissen fand man auch eine weibliche Aktdarstellung, die ich im Jahr meines Todes gemalt hatte. Die Gesichtszüge der Frau sind nicht erkennbar, die  warme Ausstrahlung dieses Bildes offensichtlich. Das bestärkte die Kunsthistoriker in der Annahme, es handele sich bei der Darstellung um meine Geliebte, die mich auch nach ihrer Rückkehr zu ihrem Mann  regelmäßig in meinem Atelier besuchte. Ob die unglückliche Liebe oder die gesellschaftliche Zurückweisung zu meinem Entschluss an jenem Abend geführt haben, bleibt ungeklärt, wie so vieles aus meinem kurzen Leben.

Wer bin ich?

– Wer bin ich? –

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Auflösung des Kunsträtsels aus Fresko 02/2017: Marianne von Werefkin (1860–1938)

»Meine ersten Werke landeten im Ofen«"Meine ersten Werke landeten im Ofen"
25 Kunsträtsel
von Charlotte Vierer
Klinkhardt & Biermann Verlag € 9,90