Fresko-Kunsträtsel

No. 02/2023

Wer bin ich?

Für mich gab es keinerlei Perspektiven – so sahen es jedenfalls meine jüdischen Eltern. Aus Furcht vor Pogromen, aber auch aus Mangel an Arbeitsmöglichkeiten hatten sie meine Geburtsstadt Odessa verlassen und sich in einem rund 500 Kilometer entfernten Dorf niedergelassen. Dort fand mein Vater eine Anstellung als Arbeiter in einer Nagelfabrik. Um meine Bildungschancen zu verbessern, wurde ich mit fünf Jahren der Obhut meines Onkels, der mit seiner Frau in großbürgerlich-jüdischen Verhältnissen in Sankt Petersburg lebte, anvertraut. Mit 18 Jahren wollte ich die Welt kennenlernen und begann in Deutschland ein Kunststudium. Von dort aus ging es direkt nach Paris. Paris! Ich konnte mein Glück kaum fassen, das wahre Künstlerinnenleben konnte beginnen. An einer privaten Akademie feilte ich an meiner Maltechnik, meine Farbpalette wurde leuchtender, und ich feierte mit einer kleinen Galerie-Ausstellung erste Erfolge. Den Galeristen heiratete ich kurz darauf. War es Liebe? Wohl eher eine praktische Lösung, denn wir einigten uns auf eine beidseitig zufriedenstellende Zweckehe. Ihm verlieh sie den Anschein ­einer bürgerlichen Existenz, mir gab sie die Freiheit, fernab meiner Familie in Paris bleiben zu können.

Eines Tages betrat ein junger Künstler die Galerie. Wir verliebten uns ineinander, ich ließ mich scheiden, wir bezogen eine Atelierwohnung im Quartier Latin, und ein Jahr später kam unser Sohn auf die Welt. Meine Malerei aufzugeben, kam für mich nicht infrage, im Gegenteil. Im Team mit meinem Mann schufen wir – inspiriert von den technischen Neuerungen der Großstadt – neuartige Kunstwerke, in denen sich Wissenschaft und Intuition verbanden. Meine Kunst brachte ich nicht nur auf die Leinwand, sondern schneiderte sie mir sozusagen auch auf den Leib. Auf Festen trug ich meine selbstentworfenen Kleider, darüber hinaus gestaltete ich Lampenschirme, Kissen, Holzkästchen, Plakate und Bucheinbände. Eine Zeit lang wandte ich mich ganz meinen Stoffentwürfen zu und eröffnete ein erfolgreiches Mode- und Einrichtungshaus. Auch nach dessen Schließung, bedingt durch die Weltwirtschaftskrise, blieb ich dem Textildesign treu – und kehrte zusätzlich zurück zur Malerei. Meinen Mann überlebte ich um 38 Jahre, bis ich schließlich berühmt und hochbetagt in meinem Atelier starb – was für ein Künstlerinnenleben! Wer bin ich?

Wer bin ich?
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Einsendeschluss am 8. Juli 2023
Auf‌lösung des Kunsträtsels aus Fresko 01/2023:
Rembrandt van Rijn (1606–1669)