Fresko-Kunsträtsel

No. 01/2021

Wer bin ich?

Ich traf ihn im Café, begrüßte ihn und sagte: „Ich liebe dich nicht mehr, es ist aus.“ Von meiner unverschnörkelten Direktheit waren wir beide schockiert. Eigentlich hatte ich nichts dergleichen geplant, aber nun war aus meinem Unterbewusstsein etwas herauskatapultiert worden, das offenbar keinen Aufschub duldete. Ich war blutjung, hatte die Schule abgebrochen, um Malerin zu werden, und wohnte seit einem Jahr in Paris. Über Freunde lernte ich ihn kennen, er war doppelt so alt wie ich und bereits ein anerkannter Maler. Wir blieben Freunde. Wenige Jahre später, als ich einen kometenhaften Aufstieg als Künstlerin erlebte, schrieb er in Verkleinerungsform von mir, hängte ein „lein“ an meinen Namen. Das zeigte mir, dass mein Unterbewusstsein durchaus recht gehabt hatte: Ich war längst kein „-lein“ mehr und wäre es vielleicht an seiner Seite geworden.

Mit meinem antibourgeoisen Temperament war ich eine Zeitlang Liebling der Künstlerfreunde, wurde mit meinen intuitiven Werken von den Kollegen auf Händen getragen. In diesen Jahren entstand eine skandalauslösende Fotoserie von mir, geschaffen von einem der berühmtesten Fotokünstler, der wenig später glücklicherweise die düsteren Vorzeichen der Zeit erkannte und ins Exil nach Amerika entkam.

Eines meiner frühen Werke, mit dem ich über Nacht Weltruhm erlangte, wurde noch vor Ausstellungsbeginn nach Amerika verkauft. Dort dachte man aufgrund meines Namens lange Zeit, ich sei ein Mann. Wäre das Werk zur Ikone geworden, hätte man gewusst, dass sich hinter den Initialen eine 23-Jährige verbirgt? Mir ist das heute einerlei, ich habe ohnehin nie verstanden, warum um diese eine Arbeit solch ein Getöse entstand, schließlich habe ich im Laufe der Jahre ein vielfältiges und spannendes künstlerisches Werk geschaffen, das sich jeder stilistischen Einordnung entzieht.

Der plötzliche Ruhm in Paris wurde mir fast zum Verhängnis. Ich geriet in eine Schaffenskrise, die mehrere Jahre andauern sollte, und kehrte in mein Heimatland zurück, wo ich den größten Teil meines restlichen Lebens verbrachte. Mit 48 Jahren begann eine neue, sehr kreative künstlerische Phase. Drei Jahre vor meinem plötzlichen Tod nahm ich an der documenta in Kassel teil, meine Arbeit hing Seite an Seite mit den ganz großen Namen. Der meines ehemaligen Geliebten war nicht darunter – wer bin ich?

Wer bin ich?
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Einsendung an: fresko1@hirmerverlag.de
Einsendeschluss: am 15. April 2021
Auflösung des Kunsträtsels aus Fresko 04/2020:
Angelika Kauffmann (1741–1807)