Fresko-Kunsträtsel

No. 04/2020

Wer bin ich?

Mit Superlativen sparte man nicht, um mein Talent, meinen Geist, meine Gestalt, meinen Erfolg – habe ich etwas vergessen? – natürlich: mein Einkommen zu rühmen. Ich sei mit einem Gemüt ausgestattet, das ein Bewunderer als „holdes Insichgeschmiegtsein“ beschrieb. Was damit gemeint war, habe ich nie so recht verstanden und hatte auch wenig Zeit, darüber nachzudenken, denn ich, das „Wunderkind“, war seit meinem zwölften Lebensjahr vor allem mit einem beschäftigt: zu arbeiten. Im Laufe von rund 60 Schaffensjahren entstand ein Bild nach dem anderen – schließlich war ich diejenige, die das Brot für die Familie verdienen musste. Dabei ging ich äußerst organisiert zu Werke. Ich plante klug meine Karriere, knüpfte Kontakte, schloss Verträge ab, führte Auftragsbücher und Listen, die meine Käufer genauestens darüber informierten, welche Leistung sie zu welchem Preis erwarten durften – besondere Wünsche wie etwa das Abbilden im orientalischen Gewand wurden zusätzlich berechnet. Um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: Meine Bilder waren keine Massenware, sondern sensible Charakterstudien oder eindrucksvolle Historiengemälde – nicht umsonst gelte ich als Ausnahmeerscheinung an dem von Männern besetzten Maler-Himmel.

Mein Selbstbewusstsein, meine Weltgewandtheit und Intelligenz bewahrten mich jedoch nicht vor einer bitteren Lektion: Mit 26 Jahren verliebte ich mich in einen angeblichen Grafen, der nach der heimlichen Hochzeit nicht lange zögerte und das tat, was Heiratsschwindler zu tun pflegen: mit den Ersparnissen seiner frisch Angetrauten zu verschwinden. Die Ehe wurde annulliert. Jahre später heiratete ich erneut, dieses Mal einen soliden, 20 Jahre älteren „Brummeltypen“, wie eine Freundin bemerkte. Selbst ausgebildeter Maler, grundierte und spannte er für mich die Leinwände auf Rahmen, organisierte den Haushalt und hielt mir den Rücken frei für meine Malsitzungen, deren Ergebnisse meist von Erfolg gekrönt waren, bis auf ein Bildnis meines vielleicht berühmtesten Kunden, der sich mit seinem gemalten Antlitz nicht anfreunden wollte – was ich bedauerte, denn gerade er lag mir sehr am Herzen. Der Dichterfürst und Gelehrte fand sich zu schmal, zu seelenvoll und nicht markig genug wiedergegeben. Als er abreiste, schenkte er mir einen kleinen Pinienbaum, der heute rund 230 Jahre alt wäre – wer bin ich?

Wer bin ich?
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Auf‌lösung des Kunsträtsels aus Fresko 03/2020:
Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901)