Fresko-Kunsträtsel

No. 03/2020

Wer bin ich?

Meine beiden Großmütter waren Schwestern, die Schwiegermütter meiner Eltern demnach auch ihre Tanten, die Schwägerin und Schwager zugleich ihre Cousine und Cousin – verwirrt? Das ist kein Wunder. Wenn in einer Familie aus Gründen des Erhalts des Familienbesitzes ständig untereinander geheiratet wird, kann man allzu leicht den Überblick über die Verwandtschaftsverhältnisse verlieren. Für mich persönlich bedeutete dies jedoch Grundlegendes: Mein Körper hatte sich ob der Verwirrung einen eigenen Bauplan zurechtgelegt. Konnte ich als Kind noch reiten und mit meinem Vater auf die Falkenjagd gehen, musste ich aufgrund meiner zunehmenden körperlichen Einschränkungen bald auf sportliche Tätigkeiten verzichten und nicht selten das Bett hüten. Glücklicherweise blieb mir die Liebe zur Kunst, zum Malen und Zeichnen. Meine Mutter berichtete mir später – da hatte sich mein Vater längst von der Familie abgesetzt –, man habe mir schon als kleines Kind die Buntstifte wegnehmen müssen, damit ich ins Bett ging, von wo aus ich mich zum Ofen zurückschlich, um mit Kohlestückchen weiterzumalen.

Nach dem mühsam bestandenen Abitur siedelte ich nach Paris über, wo ich mich akademisch ausbilden lassen wollte und einen renommierten Lehrer fand. Dieser war jedoch nur mäßig begeistert von meinem Können und verlor bald das Interesse an mir als Schüler. Auch wenn ich meiner Mutter schrieb, „ich faulenze herum und warte auf Inspiration“, blieb ich, was meine Ausbildung betraf, beharrlich. Bald konnte ich ihr erste Erfolge melden, die sie allerdings für sich behalten musste, da mein Tätigkeitsfeld, für das ich mich entschieden hatte, in der erweiterten Verwandtschaft für einen handfesten Skandal gesorgt hätte. Irgendwann ließ sich jedoch meine Karriere nicht mehr verheimlichen, in der ganzen Stadt waren meine farbleuchtenden Plakate zu sehen, der schwungvolle Strich unverkennbar von meiner Hand. Mein gesellschaftlicher Umgang und Lebenswandel – man sprach von Alkoholexzessen – machten mich zum schwarzen Schaf der Familie. Sie musste die Schande jedoch nicht lange ertragen, bereits mit 36 Jahren gab mein erschöpfter Körper auf. Anfang September, es war ein Montag, starb ich im Beisein meiner beiden Eltern in herrschaftlicher Umgebung – wer bin ich?

Wer bin ich?
Das Kunsträtsel mit Gewinnchancen
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Einsendungen an:fresko1@hirmerverlag.de
Einsendeschluss am 16. November 2020
Auf‌lösung des Kunsträtsels aus Fresko 02/2020:
Leonardo da Vinci (1452–1519)