Esprit Montmartre

Die Bohème und der Blick auf ein wenig vertrautes Paris

No. 01/2014

Von Ingrid Pfeiffer

Kaum eine Epoche der neueren Kunstgeschichte ist so geprägt von Klischees und so häufig abgebildet wie das Paris der Jahrhundertwende am Montmartre mit dem Moulin Rouge als Inbegriff für Dekadenz und Genuss und Tänzerinnen beim Cancan. Dazu passend der Künstler als Bohemien, arm, aber kreativ, dem Alkohol frönend, bis mittags schlafend und abends mit Freunden und Gleichgesinnten die Nacht zum Tage machend.

Louis Anquetin, Femme à la voilette, 1891, © Privatsammlung, courtesy of D. Nisinson.

Louis Anquetin, Femme à la voilette, 1891, © Privatsammlung, courtesy of D. Nisinson.

Eine der ersten Definitionen für Künstler als Bohemiens lieferte bereits 1834 der französische Journalist Félix Pyat: „Die übliche Manie junger Künstler, außerhalb ihrer Zeit leben zu wollen, mit anderen Vorstellungen und Gepflogenheiten, schließt sie von der Welt aus, macht sie zu fremden, absonderlichen Gestalten, stellt sie außerhalb des Gesetzes, ausgeschlossen von der Gesellschaft; dies sind die heutigen Bohemiens.“ Zu den Vorläufern dieses Typus, der später Vorbild von Bohème-Zentren wie Berlin wurde, zählten zweifellos Künstler wie Gustave Courbet. Sie erlebten um 1900 am Montmartre einen Höhepunkt – einer Gegend, die damals in vielfacher Hinsicht das Gegenteil der schillernden Belle Époque des Paris mit den üppigen Kaffeehausszenen vergegenwärtigte.

Montmartre, Rue Saint-Vincent, 1909

Montmartre, Rue Saint-Vincent, 1909

Montmartre, Frauen am Brunnen, Place du Tertre, 1900

Montmartre, Frauen am Brunnen, Place du Tertre, 1900

 

 

 

 

 

 

Diebe, Bettler, Gaukler

Ramon Casas, Le Bohème, poète de Montmartre (Portrait d’Erik Satie), Detail, 1891 Courtesy Northwestern University Library

Ramon Casas, Le Bohème, poète de Montmartre (Portrait d’Erik Satie), Detail, 1891 Courtesy Northwestern University Library

Das besondere topografische, soziale und historische Umfeld dieser damals verrufenen Gegend trug wesentlich dazu bei, dass sich einige der bedeutendsten Künstler der Moderne in diesem Viertel ansiedelten. Statt der gängigen Motive großer Boulevards und glänzender Opern fanden die Künstler dort erstmals in großem Umfang neue Themen: Sie hielten in bislang ungekanntem Realismus die Welt der Außenseiter, der Diebe, Bettler, Gaukler, Prostituierten und Trinker, aber auch der Arbeiter und Demonstranten fest. Zu dieser neuen Themenwelt bei van Gogh, Toulouse-Lautrec, Picasso und vielen anderen gesellte sich eine neue Form künstlerischer Selbstdarstellung und damit eine veränderte Definition der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft.

Auf den Fotos vom Ende des 19. Jahrhunderts gleicht der Montmartre keinesfalls einem Stadtteil in Sichtweite von Seine und

Henri de Toulouse-Lautrec, Mademoiselle Eglantine’s Troupe, 1896 © Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen, Kupferstichkabinett, Foto: Lars Lohrich

Henri de Toulouse-Lautrec, Mademoiselle Eglantine’s Troupe, 1896 © Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen, Kupferstichkabinett, Foto: Lars Lohrich

Eiffelturm, sondern wirkt wie ein Dorf weitab vom Pariser Zentrum. Georges-Eugène Baron Haussmann hatte Teile des mittelalterlichen Paris in Alleen und Boulevards mit Mietshäusern für die Bourgeoisie umgebaut und laut Jean-Paul Crespelle so „das Geschwür der Armut an die Pariser Ränder verbannt“.

Ein riesiges Atelier

Auf der „Butte“, dem „Hügelchen“, wie die Einheimischen es nennen, gab es am nordwestlichen Rand den „Maquis“, eine große unbebaute Freifläche mit Gestrüpp und kleinen Gärten. Hütten und Baracken waren hier angesiedelt, einfachste Behausungen für Arme, Diebe und Banden, Arbeiter und Wäscherinnen, Straßenhändler und Prostituierte. Moderne Gasbeleuchtung gab es nicht, Kanalisation und Müllabfuhr waren in miserablem Zustand, ebenso fehlten die Pferdebahnen, die im übrigen Paris für Mobilität sorgten, und selbst die Polizei mied die engen und steilen Gassen. In diesem Umfeld fand auch die zunehmend internationale Gemeinde der Künstler ein bezahlbares Quartier und verwandelte das Viertel in eine Art riesiges Atelier.

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Esprit Montmartre
Die Bohème in Paris um 1900 Bis 1. Juni 2014 
Schirn Kunsthalle Frankfurt www.schirn-kunsthalle.de
Deutsch/ Englisch
Katalog zur Ausstellung Hrsg. von Ingrid Pfeiffer und Max Hollein 
Himer Verlag € 49,90

(Die Deutsche Ausgabe ist derzeit leider nicht unter www.hirmerverlag.de erhältlich.)