Architekt*innen im Dialog

"Wir erfinden ja nicht, sondern wir finden die Dinge"

No. 04/2019

Unter dem Titel architects on architects sprachen an der Fakultät für Architektur der Technischen Universität München herausragende Architekten über Baukünstler vorangegangener Generationen, die ihre Haltung zur Architektur beeinflusst haben. Im Fokus stehen die generationenübergreifende Relevanz von Konzepten und Ideen sowie die Frage nach deren Überführung in die Gegenwart. Die zusätzlichen privaten Gespräche zwischen den vortragenden Architekten und namhaften Architekturtheoretikern oder Künstlern werden erstmals in einem Band des Hirmer Verlags veröffentlicht. Folgender Textauszug gewährt einen Einblick in den persönlichen Dialog zwischen Arno Lederer, Partnerarchitekt des Büros Lederer Ragnarsdóttir Oei, und Philip Ursprung, Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich, die sich über die eigenen Werdegänge und ihre Vorbilder, unter anderem den 1975 verstorbenen schwedischen Architekten Sigurd Lewerentz, unterhalten.

AL Wie kam es eigentlich zu der Zusammensetzung von Lewerentz, Ursprung und mir?

PU Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich durfte nicht wählen.

AL Ich habe einfach zugestimmt, bei Sigurd Lewerentz und bei Ihnen – und nicht weiter darüber nachgedacht.

PU Ich auch nicht, ich bin ja kein Sigurd Lewerentz-Experte und wir sind uns auch noch nicht begegnet.

AL Das ist doch eine gute Voraussetzung.

PU Sie haben 1969 angefangen, Architektur in Stuttgart zu studieren und sind 1975 nach Wien gegangen.

AL Ja, das war so. Ich wollte immer Architekt werden und ich glaube, Architektur studiert man aus einem ganz banalen Grund: weil man schöne Häuser bauen möchte. Ich glaube, dass es gar keinen anderen Grund gibt. Natürlich hat Architektur auch etwas mit Kunst zu tun, sodass man darüber nachdenkt, gleich Kunst zu studieren. „In der Architektur“, sagen die Eltern dann immer, „kann man wenigstens noch ein bisschen Geld verdienen“. Und deshalb habe ich mich für die Architektur entschieden. Der Begriff der Schönheit wurde einem dann im Studium ausgetrieben. Die Botschaft war vielmehr: Architektur hat nichts mit Schönheit zu tun – und mit Kunst schon gleich gar nichts. Die Linken haben immer gesagt, Architektur wird es ohnehin bald nicht mehr geben, es werden nur noch große Planungsbüros, also Kollektive entstehen. Wenn es die Architektur nicht mehr geben wird, habe ich gedacht, dann studiere ich eben Denkmalpflege. Deswegen bin ich nach Wien gegangen und habe dieses Fach dort ein Jahr lang studiert. Danach wusste ich: den Beruf des Denkmalpflegers möchte ich nicht ausüben und bin dann wieder zurück nach Stuttgart gegangen. Aber, das muss ich schon herausstellen, ich habe durch mein Architekturstudium nicht viel gelernt.

PU In einem Ihrer Bücher beginnen Sie mit dem Zitat aus Alexander Kluges Film Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, um die Stimmung der Zeit zusammenzufassen. Ich habe das bei anderen Kollegen, die damals studierten, ganz ähnlich gehört. Über die Zeit der späten 1960er bis in die 1970er Jahre spricht Jacques Herzog von der „großen Leere“, Peter Zumthor von der „Zäsur“ und Peter Märkli vom „Vakuum“. Sehen Sie das auch so?

AL Ja, politisch gesehen würde man sagen, es war ein Interregnum. Zuvor gab es mit der Nachkriegsmoderne eine vorherrschende Schule mit großer Verlässlichkeit. Die Professoren, die noch von den großen Meistern wie Le Corbusier, Walter Gropius oder Mies van der Rohe gelernt hatten, waren jetzt nur noch „modern“. Ihnen fehlte aber im Grunde eine klassische Ausbildung. Das war eine Zeit, in der alles horizontal und aus Beton sein musste und in der die Konstruktion den ästhetischen Ausdruck lieferte. Diese Sicherheit war plötzlich weg, sowohl im Städtebau als auch in der Baukonstruktion. Die 1968er-Generation hat erstmals infrage gestellt, wie die Dinge wirklich waren und was verloren ging. Das hatte natürlich eine große politische Komponente, vor allem in Deutschland aufgrund des Dritten Reichs.

PU Die 1970er Jahre sind aber auch die Zeit der Rezession. Ich habe zum Beispiel mit Ernst Gisel gesprochen, der sagte, dass das größte Problem die Auftragslage war. In den 1960er Jahren konnte er halb Berlin bauen und in den 1970er Jahren plötzlich nichts mehr.

AL Ja, das war die Ölkrise 1973. Und plötzlich trat der 1968 gegründete Club of Rome ins öffentliche Bewusstsein. Das war das erste Nachdenken über die Bedeutung und die Endlichkeit von Ressourcen und der Schöpfung im weitesten Sinne. Es war auch die Zeit, in der die Frage nach der Baugeschichte wieder aufkam. Eine Frage, die bis dahin überhaupt keinen Bezug zum Entwerfen hatte und in der Nachkriegszeit völlig ausgeblendet wurde. Dadurch lässt sich auch die in den 1950er Jahren stattfindende Zerstörung von kulturellen Dingen, die Bilder und Erinnerungen hervorriefen, begreifen. Auch die Generation unserer Lehrer wollte sich damals nicht erinnern.

PU Waren das die Gründe, die Sie als junger Architekt zu Ernst Gisel geführt haben?

AL Ja, gleich nach dem Studium habe ich bei ihm gearbeitet. In Stuttgart hatte Gisel die Sonnenbergkirche gebaut, die mich aber nicht wesentlich berührt hat. In einem Buch hatte ich die kleine Bergkirche Rigi Kaltbad im Kanton Luzern von ihm gesehen. Diese Kapelle aus Putz und Holz, mit ihrer runden Ecke und dem Blick ins Tal hat mir gefallen. Obwohl ich irritiert war, dass man im Inneren von der Galerie aus, diesem schönen Aussichtspunkt, keinen Blick nach draußen hat. Das konnte ich nicht begreifen. Wie kann man auf dem Berg bauen und keinen Bezug nach außen schaffen? Seitdem hat mich Ernst Gisel interessiert. Ich habe ein Jahr bei ihm ­gearbeitet und in diesem einen Jahr alles gelernt, was ich an der Uni nicht gelernt habe. Gisel war zwar autoritär und streng, hatte aber eine gewisse Gütigkeit und unsere Beziehung war sehr gut.

PU Diese Kirche war also ein ästhetischer Magnet, der Sie anzog. Auch weil es so etwas in Ihrem architektonischen Umfeld nicht gab?

AL Die Frage ist ja, warum einen etwas anspricht oder warum nicht. Ich glaube, dass Perfektion langweilig ist und Irritation einen zum Nachdenken bringt. In der Kunst ist das so und natürlich auch in der Architektur. Dieser Moment der Irritation steckt auch in der Bergkirche mit der geschlossenen Wand.

PU Motive, die in Ihrem Werk immer wieder auftauchen, sind das nach außen gestülpte Treppenhaus, die Balkone und die Rundungen an den Gebäuden. Sind das auch Anhaltspunkte für Irritationen?

AL Das könnte sein. Die Frage der Körperhaftigkeit und auch eine gewisse Vorliebe für Rundungen spielt für mich sicherlich eine große Rolle. Darum bin ich vermutlich auch so gerne zu Ernst Gisel gegangen. Etwas Rundes zu machen, ist richtig schwer. Gisel hatte den Blick dafür und er hat es auch vorgezeichnet. Dieses Vorzeichnen, das Sehen, wie die Hand den Stift bewegt, war etwas sehr Entscheidendes. Vieles geht eben nicht über den Kopf, sondern über die Hand. Man entwickelt auch sehr früh ein Gefühl für Greifen, Sehen, Riechen und Fühlen. Der synästhetische Vorgang, dass ich Gegenstände sehe, sie anfassen kann und weiß, wie sie riechen, macht den Raum aus. Diese frühen Erfahrungen mit Material, Körperhaftigkeit und Licht sind so prägend, dass man sie auf die eigene Arbeit überträgt.

PU Ich finde den Zusammenhang zwischen dem Tastsinn, der Synästhesie und der Sprache, die ja auch mit der Haptik zusammenhängt, hochinteressant. Ist uns dieser Zusammenhang in der Schule ausgetrieben worden?

AL Absolut. Wir stehen gerade an einer Schwelle, an der sich Architektur sehr stark ändert. Durch die Rechner – deren formidable Eigenschaften nicht abzustreiten sind – ist der Abschied von der Hand feststellbar. Ich glaube auch, dass im heutigen Bildungssystem mit der Betonung auf den wissenschaftlichen Fächern ein Denk-, Fantasie-, und auch Empfindungsverlust stattfindet. Ob das besser oder schlechter ist, mag ich nicht beurteilen, aber ich gehöre sicher zu der Generation, die das Denken mit der Hand in sich aufgenommen hat. Diese Verbindung von Körper, Bewegung und Denken über Material und Form ist entscheidend, wir erfinden ja nicht, sondern wir finden die Dinge. Und unsere Hand, die etwas zeichnet, vielleicht sogar etwas Ungelenkes oder Komisches, macht eigentlich den Vorschlag, wie es gehen kann.

PU Ist das eine Entwurfsmethodik von Ihnen?

AL Ja, gerade am Anfang eines Projektes. Man beginnt zu zeichnen, man versucht zu korrigieren, zeichnet drüber und nochmal drüber und denkt schließlich, es sei falsch. Aber die Hand macht es eigentlich richtig. Dieser Dialog zwischen Kopf und Hand ist das Wesentliche.

PU Sind Bilder für Sie schon präsent, bevor Sie anfangen zu zeichnen oder stellen sie sich erst im Verlauf ein?

AL Leider schon vorher, aber das geht uns allen so. Diese Bilderflut im Internet ist schon verführerisch. Man denkt, man hätte etwas selbst gefunden, dabei hat man es einfach irgendwo gesehen. Auf der anderen Seite kann es sein, dass zu viele Bilder dieses Thema auch wieder relativieren.

PU Ich denke jetzt konkret an die Figur des Ofens in Ihrem frühen Einfamilienhaus, das Sie Anfang der 1980er Jahre gebaut haben. Dieser Ofen in der Nische, auf einer Seite das gestapelte Holz, ist eine Art Fokuspunkt, aber zugleich ein Scharnier des Hauses. Die Feuerstelle ist ein Archetyp des Herdes, etwas Archaisches, aber zugleich ein zeitgenössischer Ofen. Gab es eine Referenz für diesen Ofen bevor er zustande kam oder hat er sich entwickelt?

AL Wahrscheinlich gab es dieses Bild. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde: „Ich habe mir das ausgedacht.“ Nein, mit Sicherheit gab es das Bild, aber ich weiß nicht welches, es spielt auch keine Rolle. Geoffrey Baker zum Beispiel beschreibt Le Corbusiers Skizzenbücher als eine Art Bibliothek. Denn jede mit der Hand gezeichnete Skizze speichert sich auch im Kopf ab, sodass man das physische Skizzenbuch im Entwurfsprozess gar nicht unbedingt benötigt. Diese Bibliothek im Kopf anzureichern ist viel wichtiger, als technische Details zu lernen, die sich sowieso überholen. Antoine de Saint-Exupéry sagt: „Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ In unserer Ausbildung lernen wir immer, Boote zu machen, aber wissen oft nicht, was wir letztendlich mit dem Boot machen sollen.

PU Sie haben gesagt, sie hätten eigentlich erst bei Ernst Gisel etwas gelernt. Haben Sie das Gefühl, dass Sie während des Studiums autodidaktisch gelernt haben, jenseits dessen, was angeboten wurde?

AL Ja, ich konnte ja mein erstes Haus schon als Student bauen. Aber im Grunde musste ich mir dabei alles selbst erarbeiten. Als ich dann später selbst unterrichtete, hat es mich sehr beschäftigt, wie man junge Menschen dazu bringt, Begeisterung für etwas zu entwickeln und ihnen erklärt, dass das intrinsische Lernen das eigentliche Ziel darstellt.

Heute gibt es immer mehr Spezialisten, die einem sagen, wie Architektur geht und sie dabei vor allem quantitativ bemessen. Aber daraus etwas zu machen, das nicht nur wirtschaftlich und konstruktiv funktioniert, sondern etwas ist, worin man sich gerne aufhält, das ist das große Geheimnis und die spezifische Begabung des Architekten. Sie wird leider nicht mehr so geschätzt und wahrgenommen wie früher. Es ist ein unbefriedigender Zustand, dass die baukulturelle Fragestellung erst weit hinter der ökonomischen rangiert.

PU Kann die Ausbildung daran etwas ändern?

AL Ja, aber dann müssen wir das verschulte System der Fakultäten ändern. Die Studenten sollten einfach anfangen, zu entwerfen. Und dann kommen sie an einen Punkt, an dem sie sich etwas holen, etwas aneignen müssen. Dann braucht es einen Mentor, der ihnen dabei hilft. Jemanden, der weiß, wo sie nachschauen können oder womit sie sich beschäftigen sollen. Und es braucht Kunst- und Architekturgeschichte, nicht chronologisch, sondern phänomenologisch. Den Eckkonflikt gibt es in der Antike und im 19. Jahrhundert genauso wie heute.

PU Der Gedanke, dass der Eckkonflikt in jeder Epoche vorkommt, setzt voraus, dass Architektur etwas Kontinuierliches ist.

AL Wir leben in einer Zeit des Fortschritts, die Technik wird immer weiter verbessert. Und automatisch denkt man, Architektur hat auch etwas mit Fortschritt zu tun. Aber das stimmt nicht. In den architektonischen Prinzipien gibt es nur sehr wenige Erfindungen. Deswegen unterscheiden sie sich von der Technik.

In Karl Jaspers Einführung in die Philosophie wird erläutert, dass Philosophie nicht dem Fortschrittsgedanken unterliegt. Es ist Unsinn, zu sagen, Peter Sloterdijk wäre fortschrittlicher als Immanuel Kant und dieser wiederum fortschrittlicher als Platon. Ebenso wie es für die Musik unsinnig ist, zu behaupten, Mozart sei fortschrittlicher als Bach. Und das gilt auch für die Architektur.

PU Mein Geschichtsmodell ist ebenfalls diskontinuierlich. Die Vergangenheit hat mit der Gegenwart nicht von vornherein zu tun. Die Dinge sind disparat und wir konstruieren Zusammenhänge. Vielleicht gibt es auch Resonanz und Affinität zwischen bestimmten Ereignissen. Deswegen interessiere ich mich mehr für Konflikte oder Differenzen als für Kontinuität. Gibt es für Sie in Ihrer Arbeit eine Klarheit darüber, dass Sie etwas Bestimmtes nicht wollen?

AL Eigentlich nicht, zumindest nicht sofort. Ich würde immer zunächst schauen, ob ich etwas verwenden kann oder nicht. Aber es gibt sicherlich Dinge, die ich völlig unbegründet ablehne.

PU Der Prozess funktioniert also nicht durch Verneinung?

AL Früher war das stärker der Fall, mittlerweile ist es das nicht mehr. Als junger Architekt baut man natürlich Feindbilder auf. Das braucht man, um sich abzugrenzen. Im Alter wird man gelassener und man weiß mehr und mehr, was man will. Aber die Verbeugung vor der Ökonomie, der Politik und den oft absurden normativen Vorgaben bringt mich auf die Palme. Dadurch wird unsere Architektur zu einem technischen Produkt und entfernt sich von der Möglichkeit, als gebauter Raum gefühlt und geliebt zu werden.

PU Genau diese Möglichkeit möchten Sie mit Ihren Bauten aber schaffen. Ihre Gebäude stehen meiner Ansicht nach für das Kommune, also für den allen zugänglichen Bereich, der zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen steht. Es ist ein Bereich, der sich weder von privaten Interessen noch der öffentlichen Hand vereinnahmen lässt. Wenn Sie öffentliche Bauten schaffen, dann feiern diese nicht die bei Behörden beliebte Transparenz, sondern sind opak, undurchsichtig. Wann hat diese Anziehung zu dieser, wenn man so will, Giselschen Haltung begonnen?

AL Das weiß ich nicht mehr. Aber Ernst Gisel oder auch Sigurd Lewerentz waren der Typ Architekt, der man eigentlich werden wollte: legere Kleidung, Zigaretten rauchend am Schreibtisch, im Schein der Lampe und mit der Flasche Portwein vor sich – wie es das eine Foto von Lewerentz in seinem Büro zeigt. Man spürt, dass er nicht nur dasitzt, sondern dass er zeichnet und dabei gar nicht bemerkt, dass er arbeitet. Er ist in einer Art Fluss, in dem er Dinge mit der Hand erzählt. Diese Art des Arbeitens ist sehr faszinierend, weil der Erkenntnisgewinn durch das Machen kommt. Und faszinierend ist natürlich auch Lewerentz’ Auffassung von Raum. Für ihn gibt es den Raum nach außen, zum Öffentlichen und den Raum nach innen, ins Private. Das Spannende daran ist die Steuerung des Übergangs, das gezielte Öffnen und die dadurch entstehenden Blickbeziehungen zwischen innen und außen.

Mich fasziniert auch das Arbeitszimmer von Sigurd Lewerentz, das Klas Anshelm für ihn plante. Es befand sich unterm Dach und beim Betreten musste man sich wegen eines Balkens bücken. Lewerentz hat sich immer wieder den Kopf dort angestoßen, und obwohl man es hätte ändern können, hat er es nie getan. Es war für ihn wie eine Art Wachrüttler. Eigentlich eine Banalität, aber irgendwie ähnlich zu diesen haptischen, frühkindlichen Erinnerungen, die einen prägen.

PU Es hängt sicherlich auch mit der Frage zusammen, woher Architektinnen und Architekten ihr Material beziehen, woraus sie schöpfen. Bei Jacques Herzog ist es zum Beispiel der Geruch des Schulhauses, bei Peter Zumthor das Laufen durch ein Dorf. Diese biografischen Zufälligkeiten, diese Momente, ob Bilder, Musik oder Objekte der Erinnerung, haben sehr viel mit der eigenen architektonischen Arbeit zu tun. Ist deswegen vielleicht auch das Material des Backsteins etwas, das Sie und Sigurd Lewerentz verbindet?

AL Sicherlich. Die Backstein-Kirche Sankt Petri Kyrka in Klippan, auf die ich erstmals bei dem Bericht über eine Skandinavien-Exkursion von Friedrich Kurrent gestoßen bin, gefiel mir damals ausgesprochen gut. Deswegen bin ich hingefahren. Aber ein anderer Aspekt, der bei mir wie auch bei Lewerentz eine große Rolle spielt, ist die Bearbeitung eines Projekts bis zur Fertigstellung. Nicht nur das Zeichnen, sondern auch das Beobachten, Mitgehen und Mitentscheiden bis zum Schluss ist eine Gemeinsamkeit, die wir teilen. Aber generell verbindet mich viel mit der skandinavischen Architektur, auch weil meine Frau, Jórunn Ragnarsdóttir, aus Island kommt. Und es sind nicht nur die Arbeiten von Sigurd Lewerentz, sondern auch von Peter Celsing und Alvar Aalto, der – nebenbei bemerkt – mit Ernst Gisel befreundet war.

PU Einer Ihrer Leitsätze lautet: „Erst die Stadt, dann das Haus.“ Wenn ich jetzt an Island denke, bin ich erstaunt, dass Sie nicht sagen: „Erst die Landschaft, dann das Haus.“ Spielt für Sie die Landschaft eine Rolle?

AL Landschaft gibt es ja in Deutschland nicht mehr. Ich würde sie als Fabrik bezeichnen, der Wald ist Fabrik, die Felder und Wiesen sind Fabrik. In Island gibt es noch Landschaft. Und wenn jemand sagen würde, baue mir eine Kirche auf einem isländischen Vulkan, dann würde ich sofort zusagen, aber nur aus reinem Egoismus.

Die Stadt an sich ist schon das Wichtigste, auch das Nachhaltigste. Aber wir denken den Stadtraum nicht mehr. Wir denken, zumindest in Südwestdeutschland, immer nur in Objekten: Man baut ein Haus und der Nächste baut wieder eins. Alle Häuser sind nur als selbstreferenzielle Objekte entworfen. Dadurch geht jedoch das Gefühl für den öffentlichen Raum verloren. Dieser wird nur noch beherrscht von Infrastrukturen und Individualität. Der Gedanke der Identität des einzelnen Hauses und die Unterscheidung von alt und neu fördern dieses Abhandenkommen des öffentlichen Raums. Dabei ist die Stadt ein Organismus, der das Übergeordnete unbedingt braucht. Über Jahrhunderte hat das ganz selbstverständlich funktioniert, indem man einfach weitergebaut hat.

In der Stadt des 21. Jahrhunderts fehlen besonders die Orte, die der Ökonomie, dem ökonomischen Zwang, entzogen sind. Das sind unglaublich wichtige Orte. Kirchen wie zum Beispiel die Asamkirche in München, in der man von einem Moment auf den anderen dem Trubel der Stadt entrückt ist, an denen es ganz dunkel und ruhig ist. Ein einprägsames Erlebnis, das – zwar auf andere räumliche Weise – demjenigen entspricht, das man beim Betreten der Auferstehungskapelle von Sigurd Lewerentz auf dem Friedhof in Stockholm hat. Viel mehr als die Verwendung des Backsteins verbindet mich dieses Raumverständnis mit Sigurd Lewerentz.

Arno Lederer wurde 1947 in Stuttgart geboren. Er studierte Architektur an der Universität Stuttgart und an der Technischen Universität Wien. Nach Mitarbeit bei Ernst Gisel und Berger Hauser Oed gründete er 1979 sein eigenes Architekturbüro. Seit 1985 besteht die Bürogemeinschaft mit Jórunn Ragnarsdóttir, die 1992 um Marc Oei erweitert wurde. Von 1985 bis 1990 war er Professor für Konstruieren und Entwerfen an der Hochschule für Technik in Stuttgart. 1990 übernahm er an der Universität Karlsruhe den Lehrstuhl für Baukonstruktion und Entwerfen I, von 1997 bis 2005 den Lehrstuhl für Gebäudelehre. Von 2005 bis 2014 leitete Arno Lederer das Institut für öffentliche Bauten und Entwerfen an der Universität Stuttgart. Zum gebauten Werk des Büros Lederer Ragnarsdóttir Oei zählen neben Verwaltungs- und Schulbauten auch zahlreiche Bauten für die evangelische und katholische Kirche sowie das Kunstmuseum in Ravensburg (2013).

Philip Ursprung wurde 1963 in Baltimore geboren und studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Germanistik in Genf, Wien und Berlin. Nach akademischen Stationen an der Université de Genève, der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, der Hochschule der Künste Berlin (heute UdK Berlin), der Universität Basel, der Universität Zürich, der Columbia University New York und dem Barcelona Institute of Architecture, ist er seit 2011 Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich. Seit 2017 steht er dort dem Departement Architektur vor. Er veröffentlichte mehrere Publikationen, unter anderem als Autor Die Kunst der Gegenwart: 1960 bis heute (2010) und Der Wert der Oberfläche: Essays zu Architektur, Kunst und Ökonomie (2018) sowie als Herausgeber Herzog & de Meuron: Naturgeschichte (2002).

Sigurd Lewerentz wurde 1885 in Sandö geboren und verstarb 1975 in Lund. Er studierte von 1905 bis 1908 Architektur an der Technischen Hochschule Chalmers in Göteborg. Nach der Mitarbeit bei Bruno Möhring in Berlin sowie Theodor Fischer und Richard Riemerschmid in München eröffnete er 1911 sein eigenes Büro. In Zusammenarbeit mit Gunnar Asplund plante er ab 1914 den Stockholmer Waldfriedhof, auf dem er auch 1926 die neoklassizistische Auferstehungskapelle errichtete. Zudem war er zusammen mit Asplund leitender Architekt der Stockholmer Ausstellung 1930, einer nationalen Ausstellung für Architektur, Design und Kunst der Moderne. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören die Kirche St. Markus in Stockholm, die 1962 fertiggestellt wurde, und die Kirche St. Peter in Klippan aus dem Jahr 1966.

Cover für Architects on Architectsarchitects on architects
Hrsg. Julian Wagner, Nils Rostek, Uta Graff, Dietrich Fink
Deutsche und englische Ausgabe
160 Seiten, 41 Abbildungen
Klappenbroschur
Hirmer Verlag € 24,90