„Es lebe der Realismus“

Kunst zwischen den Kriegen in Europa

No. 01/2025

2025 entwickelt sich Chemnitz als europäische Kulturhauptstadt zum Hotspot des Kunstgeschehens und revanchiert sich mit einer groß angelegten Ausstellung, die wiederum Europa in den Blick nimmt. Im Fokus stehen hier die Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre. Nach den Gräueln des Ersten Weltkrieges erfolgte damals ein Abgesang an die vorherrschende Stilrichtung der Vorkriegszeit, nach dem Motto: „Der Expressionismus ist tot, es lebe der Realismus“, der auch Verismus oder in Deutschland Neue Sachlichkeit genannt wird.

Kiril Tsonev, Porträt Svetoslav Minkov, 1939, Sofia City Art Gallery, Foto: Svetla Georgieva

Chemnitz, zu DDR-Zeiten bekannt als Karl-Marx-Stadt, ist die dritte Großstadt in Sachsen. Als wichtiges Zentrum der Industriellen Revolution erhielt es den Beinamen „Sächsisches Manchester“. Selbstbewusst sagte man: In Chemnitz wird produziert, in Leipzig gehandelt und in Dresden Geld ausgegeben. Architektur findet man hier aus vielen Epochen, insbesondere aber aus der Zeit der Weimarer Republik. Das Museum Gunzenhauser, ursprünglich Sitz der Sparkasse Chemnitz, wurde 1928 bis 1930 erbaut. Seit 2007 zeigt es die bedeutende Sammlung der Klassischen Moderne des Münchner Galeristen Alfred Gunzenhauser (1926–2015). Kaum etwas lag näher, als in Chemnitz 2025 die Malerei der Zwischenkriegszeit im europäischen Vergleich auszustellen.

Kunstfreunde haben einen kaum zu sättigenden Hunger nach neuen Bildern. George Grosz und Otto Dix sind dem Publikum bekannt, aber was haben Künstler in den 1920er Jahren in Polen, Lettland, Estland, Ungarn, Bulgarien, im früheren Jugoslawien, Schweden oder Katalonien geschaffen? Kunst aus 21 Ländern wird gezeigt, und man ist erstaunt, ja überwältigt, welch hochkarätige Fülle an Werken, von denen man hierzulande noch nicht einmal den Namen der Künstler kennt, hier zusammengetragen wurde.

Die Ausstellung gliedert sich nicht nach Nationen, sondern betrachtet Themen aus gesamteuropäischer Perspektive: Großstadt und Nachtleben, die neue Rolle der Frau, Sport und Körperwelten, Arbeit in Industrie und Wissenschaften oder Armut und Verfall. Das Porträt zählte in der Zwischenkriegszeit zu den wichtigsten Bildthemen. In Selbstbildnissen formulieren Künstlerinnen wie die Berlinerin Lotte Laserstein, die in Rostock tätige Kate Diehn-Bitt, die Schweizerin Erika Streit, die Spanierin Ángeles Santos Torroella oder Cata Dujsin-Ribar aus Kroatien ihr neues Selbstbewusstsein als moderne Menschen und emanzipierte Frauen. wr

European Realities
April bis 10. August 2025
Museum Gunzenhauser, Kunstsammlungen Chemnitz

Katalog zur Ausstellung
Text: Deutsch 
300 Seiten, 300 Abbildungen in Farbe
Hirmer Verlag € 49,90