Ein Juwel vis – à – vis vom Königsplatz

Import antiker Helden

No. 04/2012

Man muss schon ein bisschen Kraft aufwenden, um zu den verborgenen Schätzen der Abgusssammlung zu gelangen. Wenn man die schwere Tür zum Foyer des „Hauses der Kulturinstitute“ an der Katharina-von-Bora-Straße aufstemmt, wird man zur Linken von drei Satyrn begrüßt, zur Rechten vom Pförtner, der hinter der Glasscheibe sitzend Einlass gewährt. Mit einem Summen öffnet sich eine weitere Tür und gibt Zugang zum nördlichen Lichthof. Das Münchener Museum für Abgüsse ist ein stiller Ort.

Heroen, Kultbilder und Porträts versammeln sich hier. Drei auf Pfeiler gestützte Geschosse umgeben den hellen Raum und führen fast zwanzig Meter senkrecht nach oben. Durch das Glasdach strömt Tageslicht und beleuchtet die Figuren, die sich auf dem roten polierten Steinboden versammeln: grazile Frauen und kleine Mädchen, gehüllt in antike Gewänder, muskulöse Torsi und überlebensgroße, lässig posierende Helden und Athleten. Im Dornröschenschlaf erstarrt wirken die Abgüsse antiker Skulpturen aus weißem und bronziertem Gips.

Unverzichtbar für die Künstlerausbildung

Das Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke in München © MFA Roy Hessing

Das Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke in München © MFA Roy Hessing

Oft trifft man hier Zeichner an. Auf Klapphockern sitzen sie vor den Stücken und skizzieren einzelne Figuren auf ihre Blöcke. Die wallende Nike von Samothrake, den ringenden Laokoon, den zum Schlag ausholenden Tyrannenmörder. In ihrer Bewegung sind sie lebendig und kraftvoll. Die Idee, antike Bildwerke den Menschen zugänglich zu machen, liegt dem Münchener Abgussmuseum wie auch anderen Sammlungen, die ungefähr zur selben Zeit entstanden, zugrunde. Im Jahr 1865 erhielt der Archäologe Heinrich Brunn den Auftrag, einen Bestand von Abgüssen griechischer und römischer Meisterwerke aufzubauen. Die Kopien kaufte man damals in der ganzen Welt an, um sie als Lehrobjekte für die Künstlerausbildung einzusetzen, und führte damit eine Tradition fort, die bereits in Vasaris Künstlerviten Erwähnung fand: Über die Ausbildung Andrea Mantegnas berichtete Giorgio Vasari, dass dieser von seinem Lehrer dazu angehalten wurde, anhand antiker Statuen Zeichnen und Malen zu lernen. Auch im 19. Jahrhundert verfolgte man das Ziel, Studierenden griechische und römische Werke mittels Abgüssen vor Augen zu führen.

Schätze aus der New Yorker Unterwelt

Blick in die Modellhalle der Gipsformerei © Foto: Jürgen Hohmuth

Blick in die Modellhalle der Gipsformerei © Foto: Jürgen Hohmuth

Einen Einschnitt erlebte die Münchener Abgusssammlung im Zweiten Weltkrieg. Nach 70 Jahren Aufbau zu einer der drei größten Sammlungen dieser Art in Deutschland fand sie nach einer vorübergehenden Unterbringung im Münzkabinett in den Nördlichen Hofgartenarkaden Platz – auf jenen Ausstellungsflächen, die für die Dauer der Ausstellung Entartete Kunst kurzfristig geräumt werden mussten. Nach sechs Jahren, in denen die Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich war, wurde 1944 bei einem Bombenangriff der Bestand von 2398 Exponaten bis auf ein knappes Dutzend vernichtet. Heute besitzt das Museum rund 1900 Abgüsse. Der Großteil der Neuzugänge kam in den 1960er und 1970er Jahren hinzu. Eine bedeutende Rolle bei der Beschaffung der Exponate spielte Professor Paul Zanker, der Kooperationen mit anderen Museen einging und die Sammlung mit Schwerpunkt auf hellenistische Kunst und römische Porträtkunst wiederaufbaute. Zu seinen Erwerbungen gehören die seltenen Stücke Schlafende Ariadne und der Herakles Farnese. Nur in München kann man Abgüsse der Einzelteile sehen, aus denen die weltberühmte Laokoongruppe zusammengesetzt ist.

Der südliche Lichthof birgt das Herzstück der Münchener Abgusssammlung: der farbig gefasste und im Maßstab 1: 20 rekonstruierte Parthenon-Tempel gehört zu den 140 Dauerleihgaben des Metropolitan Museum of Art. Sie wurden über einen Zeitraum von zwanzig Jahren in vier Lieferungen nach München gebracht. Seit den 1970er Jahren hatte das New Yorker Museum wegen Platzmangel seine herausragende Sammlung antiker Abgüsse in U-Bahn-Tunnels gelagert. 2007 wurden dann die nicht verliehenen Objekte bei Sotheby’s versteigert.

Wie keine andere Sammlung profitiert das Museum für Abgüsse von einer engen Vernetzung und räumlichen Nähe hochkarätiger archäologischer Einrichtungen wie dem archäologischen Lehrstuhl der LMU im Haus sowie der Antikensammlung und der Glyptothek am benachbarten Königsplatz. Die Zusammenarbeit dieser Einrichtungen ist in Deutschland einzigartig, ebenso die Unterstützung durch die Museumsrestauratoren. Auf den für die Ausstellung zur Verfügung stehenden 1000 Quadratmetern haben längst nicht alle Sammlungshighlights Platz – wie zum Beispiel die Rekonstruktion des westlichen Giebelfeldes des Zeustempels von Olympia im Maßstab 1:1. Als die Sammlung erstmals im Olympiajahr 1972 im Deutschen Museum präsentiert wurde, war dieser Abguss der Höhepunkt der Schau. Jetzt lagert das Giebelfeld zwar nicht in einem U-Bahn-Schacht, dafür auf dem Speicher des Museums für Abgüsse Klassischer Bildwerke. Viele neue Besucher könnten ihn wieder ans Tageslicht holen. af

Weitere Informationen zum Museum und zu Führungen www.abgussmuseum.de

 


Zu den renommierten Gipsformereien zählt die im 19. Jahrhundert gegründete Kunstmanufaktur der Staatlichen Museen zu Berlin. Mit über 7000 Objekten ist sie die größte Institution ihrer Art. Hier war bereits Goethe Kunde. Da er die Gipsabgüsse als eigene Kunstwerke ansah, wollte er die Gussstellen nicht geglättet haben. Heute zählen neben handwerklichem Geschick und den historischen Formen moderne Verfahren wie der Abguss mittels Silikon zu den gängigen Fertigungsmethoden. Eine neue Entwicklung ist die Scantechnik, die sich allerdings nicht für wissenschaftliche Zwecke eignet.

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Meisterwerke der Gipsformerei Kunstmanufaktur der Staatlichen Museen zu Berlin 
Hg. Miguel Helfrich für die Staatlichen Museen zu Berlin
Deutsch/ Englisch
Hirmer Verlag € 24,90