Karwoche zum 1. Advent

No. 04/2011

Von Andreas Föhr

Gründonnerstag

Es ging auf fünf zu an diesem Gründonnerstag im April. Die Sonne stand über den Bergen im Westen und warf ihr Licht auf die noch schneebedeckten Gipfel von Guffert und Halserspitze. An den Apfelbäumen trieben die ersten Knospen,und in den Fallrohren der Regenrinnen gluckste das Schmelzwasser, das jetzt reichlich von den Dächern floss.

Nach einem langen Winter war der Frühling in die Berge gekommen. Der Transporter raste mit furchterregendem Tempo den Achenpass hinab Richtung Tegernsee. Polizeiobermeister Leonhardt Kreuthner würde eine Weile brauchen, um ihn zu überholen. Was bedeutete, dass während des Überholvorgangs längere Zeit niemand entgegenkommen durfte. Kreuthner wartete ab, bis nach einer Kurve eine lange, gut einsehbare Gerade vor ihnen lag. Er zog nach links und setzte sich neben den Laster. Quälend langsam und röhrend schob sich der alte Passat am Laderaum des Transporters vorbei. Kreuthner drückte das Gaspedal bis zum Boden, sein Oberkörper lehnte vor Anspannung fast auf dem Lenkrad. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Der Blick stur nach vorne. Niemand kam entgegen. Noch. Aber die Gerade wäre bald aufgebraucht und würde dann in eine lange Linkskurve übergehen. Kreuthner blickte nach rechts aus dem Fenster. Der Spalt zwischen Führerhaus und Laderaum des Transporters zog im Schneckentempo von links nach rechts am Beifahrerfenster des Passats vorbei, endlich war er auf Höhe der Fahrertür des LKW. Ein Blick nach vorn. Das Ende der Geraden war in wenigen Sekunden erreicht.

Die Nadel des Tachos stand auf einhundertfünfundvierzig. Kreuthner war unbegreiflich, wie Kilian Raubert den Diesel-Laster so hatte hochfrisieren können. Noch beunruhigender war freilich der Umstand, dass der Spalt zwischen Führerhaus und Laderaum erneut im Beifahrerfenster des Passats auftauchte. Dieses Mal wanderte er von rechts nach links. Kreuthner fiel zurück. Er sah nach vorne. Die Gerade war zu Ende. Die beiden Fahrzeuge schossen Seite an Seite in eine langgestreckte Linkskurve, die man etwa hundert Meter weit einsehen konnte. Der Tacho des Passats zeigte jetzt einhundertachtundvierzig km/h, nun wieder geringfügig schneller als der Transporter. Wenn nichts dazwischen kam, würde Kreuthner seinen Gegner in vielleicht zwanzig Sekunden überholt haben. Die Chancen standen freilich schlecht. Es war lange kein Fahrzeug entgegengekommen.

Irgendwann musste es passieren. Kreuthner hatte keine Ahnung, was er dann machen würde. Im Augenblick galt es, sich auf das eine entscheidende Ziel zu konzentrieren: vor Kilian Raubert am Bräustüberl in Tegernsee ankommen! Angefangen hatte es beim Skifahren in Christlum. Auf der letzten Abfahrt war es zwischen Kreuthner und Raubert um einen Jägertee gegangen. Kreuthner war der bessere Skifahrer, hatte aber die schlechtere Kondition. Nach einer halben Minute Abfahrtshocke brannten ihm die Oberschenkel derart, dass er sich aufrichten musste. Das nutzte Raubert erbarmungslos, um an Kreuthner vorbeizuziehen und dabei zu lachen, dass man es noch an der Talstation hören konnte. In dynamischer Eihocke nahm er die nächste Kuppe und staunte nicht schlecht, dass hinter der Kuppe eine Skilehrerin und in ihrem Gefolge ein Dutzend fünfjähriger Kinder durch den Schnee pflügten und die Piste auf halber Breite versperrten. Trotz veitstanzartiger Verrenkungen konnte Raubert Kollisionen nicht ganz vermeiden. Drei Skizwerge riss er mit in den Schnee, bevor er selbst in einer weißen Wolke versank. Als der Schneestaub sich legte, stand Kreuthner neben Raubert, grinste und sagte, man sehe sich unten zum Jägertee. Dann verschwand er Richtung Talstation, und auch Raubert musste schauen, dass er wegkam, denn die Skilehrerin, die jetzt neben ihm stand, machte einen erregten Eindruck und wollte seinen Namen wissen.

Auf dem Parkplatz forderte Raubert eine Revanche und bot ein Wettrennen zum Bräustüberl in Tegernsee an, in dem man traditionell die Skiausflüge ausklingen ließ. Die Sache erschien Kreuthner geradezu lächerlich eindeutig. Mit seinem Passat war er allemal schneller als Raubert mit dem Transporter. Raubert durfte deshalb zuerst losfahren. Doch der Transporter war aus unerfindlichen Gründen weit schneller, als Kreuthner gedacht hatte. Kreuthner versuchte zu erkennen, ob zwischen den Stämmen der Fichten, die ihm in der Linkskurve die Sicht versperrten, ein Fahrzeug aufschien. Soweit er feststellen konnte, war da nichts. Kreuthners Wagen war jetzt am Führerhaus des Transporters vorbeigezogen. Nur wenige Sekunden und er könnte nach rechts einscheren. Da sah er im linken Augenwinkel, dass sich etwas zwischen den Fichten bewegte. Ein Schweißtropfen lief Kreuthner die Schläfe hinab. Er hoffte, sich getäuscht zu haben. Doch kaum, dass er diesen Wunsch zu Ende gedacht hatte, kam ein Wagen aus der Kurve geschossen – auf der gleichen Fahrbahn wie Kreuthner nur in entgegengesetzter Richtung. Das andere Fahrzeug war zum Zeitpunkt seines Erscheinens über hundert Meter entfernt. Aber das war unter Berücksichtigung der Geschwindigkeiten, die gefahren wurden, beängstigend wenig. Kreuthner hatte hundertfünfzig auf dem Tacho, der andere vielleicht hundert. Die beiden Autos rauschten also mit zweihundertfünfzig km/h aufeinander zu und hatten keine Möglichkeit auszuweichen. Selbst bei beiderseitiger Vollbremsung würde es Stunden dauern, bis man die Leichen aus den zusammengefalteten Fahrzeugen herausgeschweißt hatte. So oder so blieb nur eine Sekunde, um überhaupt zu reagieren.

Das Letzte, was Kreuthner sah, war das Gesicht des entgegenkommenden Fahrers. Auch wenn es in der gegebenen Situation letztlich egal war, musste Kreuthner denken: Ausgerechnet der! Just zu dem Zeitpunkt, als Kreuthner und Kilian Raubert sich ein erbarmungsloses Wettrennen vom Achensee zum Tegernsee lieferten und die beiden Kontrahenten Seite an Seite mit bedenklichen einhundertfünfzig km/h die Landstraße hinabschossen, waren Kriminalhauptkommissar Wallner und Vera auf der gleichen Landstraße unterwegs, in entgegengesetzter Richtung und mit einer den Verhältnissen angepassten Geschwindigkeit von neun zig Kilometern pro Stunde. Wallner war in euphorischer Laune, denn er war verliebt. Ganz unvorsichtig und ohne Kompromisse hatte er sich im Herbst auf die LKA-Kollegin mit den kastanienbraunen Locken eingelassen. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass er sich zu einer Frau so ohne Vorbehalte bekannte. Jetzt waren sie auf dem Weg in ihren ersten gemeinsamen Urlaub an den Gardasee.

Auf der Straße zum Achensee war weniger Verkehr, als Wallner befürchtet hatte. Das Tal lag schon im Schatten. Weiter oben brannte die Nachmittagssonne dieses ersten Frühlingstages Löcher in den Schnee. Endlich ging es dahin mit dem Winter, der dieses Jahr kein Ende hatte nehmen wollen. Während er Veras Hand hielt und sie darüber sprachen, an welcher Raststätte hinter dem Brenner sie den ersten Cappuccino trinken sollten, fuhr Wallner in eine langgezogene Rechtskurve. Die Straße vor ihm war leer, soweit man sie einsehen konnte. Mit einem Mal vermeinte Wallner, das Geräusch von Motoren mit hoher Drehzahl zu hören. Gleich darauf sah er einen weißen Lieferwagen mit atemberaubender Geschwindigkeit entgegenkommen. Neben dem Lieferwagen, auf Wallners Spur, ein roter Passat, wie Kreuthner einen fuhr. Adrenalin überschwemmte Wallners Körper. An Wallners Seite schrie Vera mit ungewohnt schriller Stimme: „Pass auf!“ Aber selbst mit einer Vollbremsung hätte Wallner den Zusammenstoß, der vernichtend sein würde, nicht verhindern können.

Andreas Föhr
1. Kapitel aus dem Kriminalroman Karwoche
Droemer Knaur € 14,99