Visionäre Collagen
Expressionistische Architektur in Osteuropa
No. 01/2019
„Ausdruck einer neuen Welt“ – danach strebte die Architektur des Expressionismus im beginnenden 20. Jahrhundert. Beeinflusst von Literatur und Kunst sowie den Austausch zwischen Bautradition und -moderne suchend, setzen sich die architektonischen Utopien von riesenhaften Kathedralen und Palästen in den osteuropäischen Gebieten fort.
Die Architektur des Expressionismus hat viele Gesichter. Als ein frühes Beispiel gilt die 1913 eröffnete Jahrhunderthalle im heute polnischen Wroclaw, damals noch deutschen Breslau. Max Berg übersetzte für die Kuppel – mit einer fast doppelten Spannweite wie der des römischen Pantheons – die Konstruktionsprinzipien gotischen Strebewerks in den modernen Baustoff Eisenbeton und schuf damit ein Werk von monumentaler Kraft.
Insbesondere in Tschechien, Polen und der Slowakei erwuchsen aus den regional unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontexten verschiedene „Nationalstile“. Geprägt vom Kubismus fokussierten tschechische Architekten auf die Fläche und die klaren, den Kubus betonenden Kanten wie Josef Gočár bei seinem Geschäftshaus Haus zur schwarzen Muttergottes (1911/12) in Prag.
In der 1918 gegründeten Tschechoslowakischen Republik ersetzten Architekten wie Gočár die typisch kristalline Brechung der Fassaden durch plastisch gerundete Elemente zum sog. Rondokubismus, der der lang ersehnten staatlichen Souveränität Ausdruck verleihen sollte. Nicht wenige Entwürfe blieben jedoch ungebaute Utopien. Dennoch: Der dritte Band Ost der Reihe Fragments of Metropolis bietet einen facettenreichen Blick auf 170 expressionistische Zeitzeugen in Bratislava, Warschau und Co., die das Bild der europäischen Moderne eindrucksvoll komplettieren. cg
Fragments of Metropolis Band 3: East/Osten Hrsg. von Christoph Rauhut, Niels Lehmann Text: Deutsch/Englisch Hirmer Verlag € 29,90