Mustang

Das mystische Königreich im Himalaya

No. 02/2023

Magisch, überwältigend, einzigartig – das sind nur einige der Attribute, die dem ehemaligen Königreich Mustang zugeschrieben werden. Der Band Tibetan Mustang: A Cultural Renaissance bezeugt, dass diese enorme Faszination gerechtfertigt ist. Es ist, als ob man eines der letzten Wunder dieser Welt entdecken würde, blättert und liest man sich durch die bildmächtige Publikation, die anlässlich der baulichen und künstlerischen Erneuerung zweier buddhistischer Heiligtümer in Mustang erschienen ist und neben dem komplexen Projekt spektakuläre Landschaften sowie Leben und Tradition der Einheimischen dokumentiert.

Restaurationsarbeiten am Jampa Temple in Lo Manthang, Foto: © Luigi Fieni

Die Empfindung des Außergewöhnlichen kommt nicht von ungefähr. Das ehemalige Königreich Mustang liegt auf einem abgelegenen, imposant zerklüfteten Hochplateau in Nepal, der Blick nach Süden fällt auf den mächtigen Himalaya-Hauptkamm, im Norden grenzt das Reich an Tibet. Hier liegt auch der Schlüssel zum Verständnis des Zaubers von Mustang: Es ist kulturell, sprachlich und spirituell seit dem 5. Jahrhundert n. Chr. eng mit Tibet verflochten und lebt die Tradition des tibetischen Buddhismus heute noch wie in einer Zeitkapsel, da es nicht nur abgeschieden in einem schwer zugänglichen Gebiet verortet ist, sondern politisch lange von der Außenwelt isoliert war. So galt das Königreich Mustang oder das Königreich von Lo („der Süden“), wie es in der Landessprache genannt wird, seit der Annexion Tibets durch China als verbotenes Land, weil es tibetische Widerstandskämpfer beherbergte. Bis 1992 war das Gebiet für Reisende gesperrt, und noch heute ist eine Sondergenehmigung für dessen Besuch notwendig.

In der Hauptstadt Lo Manthang, auf 3840 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, residiert nach wie vor ein von der einheimischen Bevölkerung anerkannter König, obwohl die Monarchie 2008 von Nepal abgeschafft wurde. Und es war dieser König, der 1994 eine erste Novität einführte: Er willigte in die Zusammenarbeit mit der American Himalayan Foundation ein, um die durch das raue Klima und den Zahn der Zeit verfallenden, zentralen heiligen Stätten von Lo Manthang zu erneuern. Wie es sich zeigen sollte, war es eine mehrfache Herausforderung. Luigi Fieni, lange Zeit Leiter des sich über 20 Jahre hinwegziehenden Projekts, beschreibt eindrücklich, wie präzise die Planungen für den Transport und die Arbeit vor Ort sein mussten, da es in Lo Manthang weder Kommunikationsmittel wie Telefon oder Internet, noch Elektrizität gab, und die Stadt nur zu Fuß oder zu Pferde erreichbar war.

Abgesehen von der Logistik und den technischen Problemen war man auch mit einer ideellen Frage konfrontiert, nämlich dem zwischen Ost und West unterschiedlichen Verständnis von Konservierung. Während im Westen die Geschichte und die authentische Bewahrung von Objekten ohne nachträgliche Interventionen im Vordergrund stehen, legen östliche Kulturen vor allem Wert auf die Form der Werke, auf ihre Funktion und die gesellschaftliche Tradition. Demnach sind insbesondere sakrale Werke kein Ausdruck der Fähigkeiten eines Künstlers oder einer Künstlerin, sondern lebendige Wesen, Verkörperungen von Gottheiten. Bei der Erneuerung der heiligen Stätten von Lo Mathang arbeiteten deshalb die westlichen Helfer*innen in allen Fragen besonders eng mit den Einheimischen zusammen und bildeten Dutzende von ihnen zu Restaurator*innen aus. Dank ihrer hohen interkulturellen Sensibilität konnten sie zu einer nachhaltigen Renaissance der Traditionen des verborgenen Königreichs von Lo beitragen und haben auf diese Weise nicht nur jahrhundertealte Wandmalereien zum Strahlen gebracht. mb

Cover für Tibetan MustangTibetan Mustang: A Cultural Renaissance
Von Luigi Fieni, Kenneth Parker
Text: Englisch
248 Seiten, 180 Abbildungen in Farbe

Hirmer Verlag € 69,–