Fresko-Kunsträtsel

Verrückt oder genial?

No. 04/2019

Wer bin ich?

Die graue Farbe in meinem Bart war natürlich nicht echt, schließlich war ich erst 26 Jahre alt. Auf dem ältesten von mir erhaltenen Foto, das mich am Tag meiner Universitäts-Abschlussfeier zeigt, stellte ich mich als wohlhabenden Großbürger dar, der graumelierte, gefärbte Bart war Teil der Inszenierung. Meine einfache Herkunft – ich wurde als jüngstes von fünf Kindern eines Handwerkers geboren – sollte man mir nicht ansehen.

Zu Beginn meiner Lauf‌‌bahn gefiel ich mir in der Rolle des teuer gekleideten Dandys, der in Bars und T‌heater der höheren Gesellschaft verkehrte und seine Schuhe vom Bruder eintragen ließ, damit sie nicht drückten. Beruf‌lich galt ich bereits im Studium als Exzentriker, man war sich nicht sicher, ob man einem Verrückten oder einem Genie das Diplom verliehen hatte. Während meine Kommilitonen exakte Baupläne zeichneten, glichen meine Entwürfe eher Skizzen, die weniger Wert auf exakte Maße legten, sondern eher die Atmosphäre, die dem Gebäude anhaften sollte, wiedergaben.

Meine ersten Bauwerke wirken in der Rückschau wie Übungsstücke in Vorbereitung auf die eine große Aufgabe, die mich über 40 Jahre lang bis zu meinem Tod beschäftigte. Der Auf‌trag war mir eher zufällig in den Schoß gefallen, der ursprünglich vorgesehene Architekt hatte sich mit dem Auf‌traggeber überworfen, ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und wurde mit 31 Jahren Baumeister eines Großprojekts, oder wie manche sagten: größenwahnsinnigen Projekts. Erfahrungen für diese Art Bauwerke hatte ich bisher nur als Student gesammelt, was mich aber nicht weiter kümmerte. Statt umfangreicher Baupläne fertigte ich wieder Skizzen an, stellte kleine Modelle her und entwickelte meine Ideen direkt auf der Baustelle. Gefiel mir etwas nicht, ließ ich es kurzerhand einreißen. Mein Vorbild für das Gebäude war ein Baum, wie ich überhaupt die Natur als meinen wahren und einzigen Lehrmeister akzeptierte. Meine Art zu bauen fand Anklang, reiche Industrielle ließen sich von mir exzentrische Häuser und Paläste errichten, mit denen sie sich gegenseitig übertrumpfen wollten. Je berühmter ich wurde, desto despotischer und wunderlicher muss ich auf meine Umgebung gewirkt haben. Von dem einstigen Dandy war nichts geblieben, mittlerweile lebte ich asketisch, war tiefgläubiger Katholik und verwendete meine gesamte Kraft für mein Lebensprojekt. Die letzten sechs Monate meines Lebens verbrachte ich nahezu rund um die Uhr auf der Baustelle, nachts schlief ich dort auf einem Feldbett. Ich muss abenteuerlich ausgesehen haben, nicht wie einer der berühmtesten Baumeister seiner Zeit, sondern wie ein zerlumpter Bettler. Für diesen hielt man mich auch zunächst, als ich bei einem Verkehrsunfall verletzt am Straßenrand liegen blieb. Wenige Tage später starb ich in einem Krankenhaus. Die Vollendung meines Werkes erlebte ich nicht mehr, soweit ich gehört habe, baut man immer noch daran. Wer bin ich?

Wer bin ich?
Das Kunsträtsel mit Gewinnchancen
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Einsendeschluss am 15. Januar 2020
Auf‌lösung des Kunsträtsels aus Fresko 03/2019:
Frida Kahlo (1907–1954)