Fresko-Kunsträtsel

NO. 04/2015

WER BIN ICH?

„Sie bellt“, sagte einmal ein Kollege über meine Stimme, ein anderer fand mich unausstehlich und hielt mich für eine langweilige Säuferin. Ein Dritter nannte mich hingegen die größte Dichterin, die das Land je hatte. Das Schreiben war nur eines von vielen Talenten, die mir meine musisch begabte Mutter in die Wiege gelegt hatte. Ebenso groß war meine Begabung für das Zeichnen oder die Kunst der Selbstdarstellung, man könnte mich als eine Art Performance-Künstlerin bezeichnen.

Als jüngstes Kind einer halbdutzend großen Geschwisterschar lernte ich früh, mich zu positionieren. Bei allem Hang zu meinen Traumwelten, in denen ich ungestört schwelgen durfte: Das stille Kämmerchen war nichts für mich, das Leben war eine Bühne, die ich zu bespielen gedachte. Die Kindheit in meiner großbürgerlichen Familie erlebte ich als glücklich, bis zu jenem Zeitpunkt, als mein Bruder starb. Es war der Beginn einer langen Kette von Abschieden geliebter Menschen, die bis ins hohe Alter nicht abriss. Eine Art Fluch, der sich wie ein treuer Dackel an meine Fersen heftete. War mein Leben tragisch zu nennen? Außer meine letzten Lebensjahre, die ich aufgrund der weltpolitischen Lage verarmt und recht kümmerlich verbrachte, war es ein an Anregungen, Freundschaften, Kunst, Liebe und Anerkennung reiches Leben. Nein, tragisch war es nicht.

Meine Vielfachbegabung, mein Witz, meine Begeisterungsfähigkeit und Fantasie müssen bis auf die beiden oben genannten Herren anziehend gewirkt haben, denn ich konnte mich vor Verehrern kaum retten. Eheglück im bürgerlichen Sinne war mir nicht beschieden: Meine erste Ehe ging nach neun Jahren in die Brüche und die nach gut einem halben Jahr geschlossene neue Verbindung zu einem wesentlich jüngeren Mann war auch nur von kurzer Dauer. Über ihn hatte ich jedoch einen Künstler kennengelernt, mit dem ich einen im wahrsten Sinne des Wortes fantastischen, zumeist brieflichen Austausch pflegte. Wir inspirierten uns gegenseitig, und wäre er nicht gestorben … was sich wie ein Märchen mit gutem Ausgang anhört, endete für ihn in der Apokalypse des Krieges.

Ich hatte Erfolg, war jedoch die meiste Zeit meines Lebens in Geldnot. Als ich Deutschland aus politischen Gründen verlassen musste und Zuflucht in einem Nachbarland fand, war ich so mittellos, dass ich die Nacht auf einer Parkbank zubringen musste. Tragisch? Ich möchte sagen, selbstbestimmt.

Wer bin ich?

– Wer bin ich? –

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Auflösung des Kunsträtsels aus Fresko 3/2015: Friedrich Wilhelm von Gärtner (1791–1847)