Die sieben Leben der Marina Abramović
Performance in ihrer radikalsten Form
No. 02/2024
Marina Abramović ist ein Phänomen: Seit über 50 Jahren berührt und erschüttert die serbische Künstlerin ihr Publikum mit Performances, die weit über jede Schmerzgrenze hinausgehen. Der Katalog zur Retrospektive, die die Royal Academy London, das Stedelijk Museum Amsterdam, das Kunsthaus Zürich und das Kunstforum Wien gemeinsam konzipiert haben, bietet jetzt erstmals einen umfassenden Überblick über das beeindruckende Gesamtwerk der Künstlerin.

Ulay/Marina Abramović, Imponderabilia, 1977, Performance in der Galleria Comunale d’Arte Moderna in Bologna
© Courtesy of the Marina Abramović Archives/2024, ProLitteris, Zurich. Fotos: Giovanna Dal Magro
Dem Ausstellungskatalog kommt in diesem Fall eine besondere Bedeutung zu, denn er dokumentiert anschaulich nicht nur Hintergründe, sondern auch Kontroversen, die ihre Performances seit den frühen 1970er Jahren ausgelöst haben. Abramović setzte damals mit ihren Langzeitperformances neue Maßstäbe. Sie riskierte in einer Reihe von selbst auferlegten Tests menschlicher Ausdauer und Disziplin ihre Gesundheit, ihren Verstand und sogar ihr Leben. Sie hat sich verbrannt, geschnitten, unter Drogen gesetzt und sich Aufgaben gestellt, die ihre physischen und psychischen Grenzen überschritten. In einem Maß, dass das Publikum regelmäßig den Impuls verspürte, eingreifen zu wollen.
Dabei ist genau diese Form der Interaktion mit dem Publikum einkalkuliert und ein zentrales Anliegen im Œuvre Abramovićs. Man kann sich ihr schwer entziehen. Zu ihrer 75 Tage dauernden Performance The Artist is present im New Yorker MoMA im Jahr 2010 pilgerten die Zuschauer in Scharen. Im weißen Kleid saß die Künstlerin den Besuchern – unter ihnen Ulay, Lou Reed und Lady Gaga – schweigend gegenüber. Die meisten von ihnen konnten dem Blick der Künstlerin nur circa drei Minuten Stand halten und brachen dann in Tränen aus. Abramović begreift letztendlich ihr Leben als fortlaufende Performance, in der sie sich ständig neu erfindet. So wie in 7 Deaths of Maria Callas, einer unfassbar aufwendigen Opernproduktion, die 2020 an der Münchner Staatsoper uraufgeführt wurde: Sie lässt Maria Callas sieben Bühnentode sterben, bis sie zum Schluss selbst in die Rolle der sterbenden Diva schlüpft. Mit unterdessen 77 Jahren hat Abramović ein gewaltiges Vermächtnis geschaffen, und wir dürfen gespannt sein, was noch kommt. ck
Marina Abramović 25. Oktober bis 16. Februar 2025 Kunsthaus Zürich 2. Oktober 2025 bis 16. Februar 2026 Bank Austria Kunstforum Wien Katalog zur Ausstellung 280 Seiten, 327 Abbildungen in Farbe Hirmer Verlag € 49,90