Aenne Biermann

„Behutsam fasst sie die Dinge an, die ihre Augen sehen“

No. 01/2019

Mit dem Reprint des Fotobuches Aenne Biermann: 60 Fotos, der sich eng an der Originalgestaltung von Jan Tschichold orientiert, wird ein Band wieder lieferbar, der seit seinem Erscheinen 1930 als programmatisches Werk einer der wichtigsten Avantgardefotografinnen des 20. Jahrhunderts gilt. Der folgende Textauszug entstammt dem Essay des Fotohistorikers Hans-Michael Koetzle:

Aenne Biermann, ohne Titel, ca. 1930

Aenne Biermann: 60 Fotos war das erste und am Ende einzige Buch der Geraer Fotografin zu Lebzeiten. Fraglos markiert es den Höhepunkt ihrer ebenso kurzen wie bemerkenswerten Karriere in der Fotografie der 1920er Jahre. Dass sie von nun an in quasi einem Atemzug mit László Moholy-Nagy [ … ] genannt würde, war selbstredend ein Ritterschlag für die junge Fotografin, deren im Buch versammeltes, der Neuen Sachlichkeit verpflichtetes Œuvre als eine Art Gegenposition zum Visualismus Moholy-Nagys verstanden werden konnte. [ … ]

Es gibt kaum ein Genre der Fotografie, kaum eines der „klassischen“ Themen, das Aenne Biermann in der kurzen, aber intensiven Zeit ihres Schaffens ausgelassen hätte. Pflanzenstudien in geistiger Nähe zu Albert Renger-Patzsch finden sich in ihrem Werk ebenso wie sorgsam arrangierte Objektaufnahmen, Straßenszenen, Landschaftsstudien, Akte und Porträts. Als herausragend erweisen sich die späten, zwischen Natürlichkeit und Pose, Spontaneität und Inszenierung oszillierenden Aufnahmen ihrer Kinder, von denen kaum zufällig eines den Weg auf den Umschlag ihres Buches gefunden hat. Die Grenzen der Fotografie auslotende Experimente im Sinne eines Neuen Sehens hat Aenne Biermann sich – von wenigen Doppelbelichtungen abgesehen – versagt, gleichzeitig jedoch die Möglichkeiten einer Neuen Sachlichkeit experimentierend ausgetestet. Enge Ausschnitte beim Porträt, die Suche nach Strukturen in der Landschaft, ein abstrahierender Zugriff bei den Pflanzenbildern, extreme Nahsichten, kühne Perspektiven, ihre Versuche, das Ephemere eines Feuerwerks zu erfassen, belegen ihr Bemühen, die dinghafte Welt durchaus neu zu sehen. In wenigen Jahren hat Aenne Biermann ein facettenreiches Werk geschaffen, das sich freilich nur in Ausschnitten erhalten hat. Eine für Palästina bestimmte Fracht mit geschätzt 5000 Fotografien muss als verloren gelten; ebenso die in Gera verbliebenen Negative. […] Aenne Biermann blieben Flucht und Exil erspart. Sie starb am 14. Januar 1933.

Cover für Aenne BiermannAenne Biermann: 60 Fotos
Von Franz Roh
Mit einem Essay von
Hans-Michael Koetzle
Text: Deutsch, Engl., Frz.
Klinkhardt & Biermann € 22,–