Kunst hoch Zwei

Sherrie Levine und die Ikonen der Kunstgeschichte

No. 04/2016

Von Caroline Klapp

Die bisher bedeutendste europäische Museumsschau der amerikanischen Konzeptkünstlerin Sherrie Levine ist bis zum 12. Februar im Neuen Museum in Nürnberg zu sehen. Die umfassende Retrospektive trägt den Titel After all, was so viel bedeutet wie „schließlich“ oder „letzten Endes“, und ermöglicht einen Überblick über die wichtigsten Werkserien von 1981 bis 2016.

Sherrie Levine, Fountain (Buddha), 1996 © Copyright Foto: Privatsammlung

Sherrie Levine,
Fountain (Buddha),
1996 © Copyright Foto: Privatsammlung

Seit über 30 Jahren bricht Sherrie Levine in ihrer Kunst mit tradierten Sehgewohnheiten, indem sie Werke anderer Künstler durch Aneignung, Variation oder Wiederholung zu ihren eigenen macht. Das hat sie nicht nur zu einer der Protagonistinnen der Appropriation Art gemacht, sondern auch dazu geführt, dass ihr OEuvre mit seiner formalen Strenge und rätselhaften Privatmythologie sowohl fasziniert als auch polarisiert. Die New Yorker Künstlerin bezieht sich in ihren Werken vorzugsweise auf Ikonen der neueren Kunstgeschichte, die ob ihrer Populariät so überhöht sind, dass sie kaum noch unvoreingenommen rezipiert werden können. Die Nürnberger Schau führt auf kongeniale Weise vor Augen, wie frei und doch präzise durchdacht Sherrie Levine kunsthistorische Bezüge aufbricht und neu erfindet: Es tauchen Werke von Albrecht Dürer, Paul Cézanne, Claude Monet, Brâncusi, Duchamp oder dem Fotografen Walker Evans ebenso wie die Zeitgenossen Robert Gober oder James Lee Byars auf. Kombiniert werden sie mit wundersamen Fundstücken vom Trödel oder Tierschädeln und -skeletten, die, in hochglanzpolierte Bronze gegossen, zu Kunstwerken stilisiert werden.

Rund 50 Werke aus 35 Jahren

Im Zentrum der Ausstellung steht ein Werk, das mit seiner erhabenen Ästhetik bezeichnend für das OEuvre Sherrie Levines ist. Auf schwarz-reflektierenden Konzertflügeln, die wie zum Spiel für vier Hände angeordnet sind, liegen zwei stark abstrahierte Glasköpfe in komplementären Farben: Crystal Newborn und Black Newborn. Sie gleichen exakt der legendären Skulptur Das Neugeborene des rumänisch-französischen Bildhauers Constantin Brâncusi. Als dieser das Werk 1915 in Marmor schuf, war die Auseinandersetzung mit dem Ursprung des Lebens auch Sinnbild für Originalität und Einzigartigkeit in der Kunst. Was aber geschieht mit diesen hehre Maximen, wenn Sherrie Levine sich das Werk anderer Künstler aneignet, um daraus etwas Eigenes zu schaffen? Sie stellt die Bedeutung von Authentizität, Originalität und Autorschaft fundamental in Frage und ermöglicht einen radikal neuen Blick auf Bekanntes. Das zeigt sich eindrücklich in den kleinformatigen, minutiös ausgeführten Aquarellen After Matisse, After Piet Mondrian, After Kasimir Malevich und After Joan Miró. Die Künstlerin hat sie nach Katalogreproduktionen angefertigt. Dementsprechend stimmen die Kopien mit den weltberühmten Originalen weder in Medium noch Duktus oder Größe überein. Auf rätselhafte Weise haftet ihnen dennoch etwas von deren Aura an. Vielleicht weil sich unsere Sehgewohnheiten in einer Welt der medialen Bilderflut, die sich ausschließlich durch Reproduktion verbreitet, so verändert haben, dass sich die Frage nach dem Original nicht mehr stellt? Auch Marcel Duchamps bahnbrechendes Readymade Fountain von 1917 existiert nur als Fotografie, die damals in der Ausstellung gemacht wurde. Sherrie Levine hat ihre Idee des legendären Urinals in goldfarbene Bronze gegossen und in Nürnberg auf den Sockel gestellt. Zur Ausstellung erscheint im Hirmer Verlag ein deutschenglischer Katalog mit Abbildungen aller Exponate zu € 49,90.

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SHERRIE LEVINE. After All
Hg. Neues Museum, Staatliches Museum für Kunst und Design Nürnberg
Mit Beiträgen von Kay Heymer, Julian Heynen, Melitta Kliege
Text: Deutsch / Englisch
Hirmer Verlag € 49,90