Humor als Waffe
Interview mit Paul McVeigh
No. 04/2016
Paul McVeigh ist Autor von Theaterstücken und Comedy-Serien sowie Organisator des legendären Londoner Short Story Festivals. Jüngst hat er seinen ersten Roman Guter Junge herausgebracht, der prompt für den alternativen Booker Prize des Guardian nominiert wurde. Über sein Debüt, seine Kindheit in Belfast, Glasscherbenviertel und Überlebensstrategien sprach Kurt Haderer mit ihm exklusiv für Fresko.
Den Artikel über Paul McVeighs Roman Guter Junge finden Sie hier!
Wer las als Erster ihr fertiges Manuskript?
Ich überließ es ein paar Kollegen, die mir auch Ratschläge gaben. Das hat mir viel gebracht. Das nächste Mal wird’s anders sein. Ich werde wahrscheinlich einen Agenten haben.
Wie finden Sie das Bild: Mickey Donnelly steuert durch die troubles wie Huck Finn durch die Stromschnellen des Mississippi?
Ich finde es treffend, denn ich wollte meine Geschichte international anlegen. Hätte sich alles nur um Belfast und Nordirland gedreht, wären die Leser überfordert gewesen. Es hat eine Zeit gedauert, bis ich draufkam, die Geschichte universeller anzulegen, indem ich sie menschlich machte: ein kleiner Junge, der Mutter und Schwester beschützt. Ein kleiner Junge, der arm ist und versucht, die Hürden zu nehmen, die seinen Weg verstellen. So konnte ich Ardoyne, einen der Stadtteile von Belfast, mit all seinen Ecken, Nischen und den Menschen, auf die Mickey in der Geschichte zusteuert, besser einführen.
Wie kamen Sie auf die Geschichte?
Jemand sah eine meiner Comedy-Shows und fragte mich, ob ich nicht auch Kurzgeschichten schreiben könnte. Ich sagte, dass ich seit meiner Schulzeit keine Prosa mehr verfasst hätte, aber es versuchen würde. Das Letzte, was ich schrieb, war ein Schulaufsatz mit dem Titel „Wie verbrachte ich meine Ferien“. Ich forschte also im Internet und bekam den Rat, erstmal die eigene Kindheit zu durchstöbern. Ich hatte ja bis dahin nur Geschichten für andere geschrieben und keine Storys, die mich persönlich betrafen. Ich kramte also in meinen eigenen Erfahrungen und dachte niemals daran, auf mehr als 5000 Wörter zu kommen. Ich fing an, die Erlebnisse eines kleinen Jungen, der seine Tante besucht, aufzuzeichnen. Der Junge war anfangs mein Alter Ego. Ich hatte aber schon 5000 Wörter, bevor der Junge bei seiner Tante ankam. Mir fielen immer mehr Personen und Begebenheiten ein. Mit der Zeit emanzipierte sich auch der kleine Junge und bekam seinen eigenen Charakter. Er wurde viel mutiger und gewitzter als ich es war. Die Unruhen schienen ihn nicht so mitgenommen zu haben wie mich.
Wann sind Sie geboren?
1968.
Sie sind also mit den Unruhen groß geworden?
Und ob, sie haben mich geformt. Das Buch fängt an mit „Ich bin an dem Tag geboren, an dem die Unruhen begannen.“ Ich wollte damit gleich klarstellen, was die Unruhen für die Charaktere bedeuteten. Frieden kannten sie nicht, der Krieg wurde ihr Alltag. Die Angst wurde ihr ständiger Begleiter und machte die Nordiren zu dem, was sie heute sind. Die Kindheit mit ihrer Unschuldigkeit sah sich einer Barbarei der Erwachsenen gegenübergestellt.
Ist das auch der Grund für die verrohte Sprache, die in den Dialogen immer wieder aufblitzt?
Sicher. Die Kinder wachsen in einer Umgebung mit Straßensperren, Verschanzungen und vernagelten Fenstern und Türen auf. Man fühlt sich eingesperrt. Die Atmosphäre wird dadurch sehr maskulin. Es zählt nur der, der an der Spitze steht. Nachgiebigkeit wird nicht geduldet. Die Sprache wird zu einer Waffe, die dich wie ein Schild beschützt oder mit der du auch angreifen kannst. In meinem Buch habe ich eine „Disney-Version“ der Umgangssprache benutzt. Die Originalversion wäre zu viel gewesen. Ich wollte dem Leser wenigstens ein Gefühl für den Umgangston geben. In Wirklichkeit war es viel übler. Ich wollte keinen damit überrumpeln. Hätte ich all die Brutalitäten geschildert, wäre jeder Leser auf und davon.
Gibt es auch heute noch die offenen Haustüren in Mickeys Straße, diese Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens in der Nachbarschaft?
Nein. Häuser wurden abgerissen, neue hochgezogen. Und neue Bewohner zogen zu. Die Gemeinschaft löste sich allmählich auf. Heute kennt sich keiner mehr in der Nachbarschaft aus. Früher ging man mit der Schüssel nach nebenan und bat um Frühstücksflocken. Mehrere teilten sich einen Telefonanschluss. Aber mit der Zeit wurde im Viertel alles auf den Kopf gestellt, und die Haustüren blieben von da an verschlossen. Diese allmählichen Veränderungen habe ich geschildert, um an den unabänderlichen Lauf der Welt zu erinnern.
In ihrem Roman fiel mir auf, dass die Straßen mit Glasscherben übersät sind. Konnten Sie in ihrer Kindheit eigentlich barfuß laufen?
Dazu fällt mir folgende Geschichte ein. Wir waren sehr arm. Ich wuchs mit sieben Geschwistern auf und teilte mir mit drei anderen ein Bett. Eines Tages, ausnahmsweise schien mal die Sonne (lacht), spielten wir hinterm Haus. Mein Bruder bespritzte uns mit dem Wasserschlauch, und ich wollte meine Schuhe nicht nassmachen. Also zog ich sie vorher aus. Ich war ein Idiot und schlitzte mir die Fußsohlen übel auf. Aber ich hatte halt diese Idee im Kopf, genauso wie in den Hollywoodfilmen barfuß auf der Straße rumzulaufen und mich von der Hydrantenfontäne bespritzen zu lassen. Die ganze Sache endete im Krankenhaus, und wir alle bekamen zuhause mächtigen Ärger. Aber so war das halt damals. Wir lernten alles auf der Straße. Heute sitzen die Kinder daheim vor dem Computer. Wir haben das sogenannte soziale Miteinander draußen mitbekommen. Die jetzige Generation lernt es beim Computerspiel.
Die Vaterfigur ist in Guter Junge sehr dominant. Ist hier der Ödipuskomplex als Anschieber der Story gedacht oder ist der Charakter des Vaters in den Unruhen begründet?
Ich wollte eigentlich nur zeigen, dass es Zuneigung in Mickeys Kindheit nicht gab. Die Kinder werden herumgestoßen, und keiner der Eltern sagt mal „ich mag dich“. So eine Atmosphäre wird in vielen Büchern ausgespart. Auch wenn Mickey seinen Vater als Betrüger entlarvt, lässt er sich nicht unterkriegen. Aber sein Vater ist auch der Einzige, der seine Träume von einer Schauspielerkarriere in Hollywood nicht als Unfug abtut. Alle anderen lachen Mickey aus, nur sein Vater nimmt ihn ernst. Ich wollte damit sagen, dass sein Vater zu Mickey wird, wenn Mickey sich nicht aus Belfast fortbewegt. Wenn sich der Sohn nicht bewegt, wird er so wie sein Vater. Und Mickey ist schon dabei, auf die schiefe Bahn zu geraten. Der Vater ist ein übler Säufer und traut keinem. Auch sein Sohn traut keinem. Sie ähneln sich, weil beide auf sich allein gestellt sind. Mickeys Vater trinkt, weil er alles vergessen will und darüber zerbricht, Belfast nicht verlassen zu haben.
Der Vater ist also nicht das personifizierte Böse?
Richtig. Er hilft Mickey mehr oder weniger, endlich eine Entscheidung zu treffen und damit ein Mann zu werden. Obwohl ihn doch alle um ihn herum als „Mädchen“ bezeichnen. Die Ironie der Geschichte ist ja, dass keiner glaubt, dass Mickey imstande ist, eine gewichtige Entscheidung zu treffen. Wir übersehen oft, was in den Kindern steckt. Welche Kraft und welche Ausdauer sie haben. Man neigt halt gern dazu, den Schein zu beurteilen. Aber man sollte die Gefühle nicht unterschätzen. Und wenn es darum geht, die Mutter zu beschützen, dann wächst fast jeder über sich hinaus. Ich wollte einfach, dass die Leser es sich nicht zu leicht machen, indem sie dem Jungen ein Etikett aufkleben, ohne sein wahres Inneres zu kennen. Obwohl ihn alle betrügen, bleibt er sich treu. Mickey trifft zum Schluss eine Entscheidung, macht diese zu seinem Geheimnis und lernt so, erwachsen zu werden. Somit endet natürlich auch seine Kindheit.
War der Schluss von vorneherein so geplant?
In der Nacht vor dem Druck habe ich die letzte Seite umgeschrieben. Ich wollte nicht mehr, dass Mickey seiner Mutter gesteht, was er getan hat. Ich habe es nun so geschrieben, dass man davon ausgehen darf, dass seine Mutter eh Bescheid weiß. Das unausgesprochene Geheimnis sollte Mickey für den Rest seines Lebens prägen.
Der typisch irische Galgenhumor spielt eine große Rolle in ihrem Buch. Wo kommt der her?
Die Nordiren unterscheiden sich von den Iren im Süden. Da sich die katholischen Nordiren seit langer Zeit unter einer Fremdherrschaft sehen, wird der Humor für sie zu einer scharfen Waffe. Die Iren im Süden hingegen müssen sich ja nicht verteidigen. Die Nordiren befinden sich mehr oder weniger im Kampf, und deshalb ist ihr Humor schwärzer. Wenn man machtlos ist, fremd regiert und in den Grundrechten beschnitten wird, dann werden die Zunge und damit der Spott zur Waffe. Man hat den Kampf gewonnen, weil keiner einen aufhalten kann, über die Besatzer zu lachen. Der Humor wird zum einen ein Schild, das dich beschützt, und zum anderen eine scharfe Waffe. So hat dich der Humor kampfbereit für die Straße gemacht. Und auf der Straße ging es böse zu. Die Briten wüteten in den Häusern, und die IRA bestrafte ihre eigenen Leute mit Schüssen ins Knie.
Die Iren sind bekannt als brillante Geschichtenerzähler. Gibt es andere Geschichtenerzähler, die sie gern lesen?
Da ich Theaterstücke und Comedy-Shows geschrieben habe, habe ich mich vor dem Romanschreiben mit Kurzgeschichten beschäftigt. Ich organisiere auch heute noch Kurzgeschichten-Festivals. Ich finde, dass die Amerikaner, die Russen – vor allem Tschechow – und die Iren die schönsten Kurzgeschichten schreiben. Bei uns gibt es ja die mündliche Weitergabe von Geschichten schon sehr lange. Und es ist auffallend, dass sehr viele gute Erzähler auf dieser kleinen Insel leben. Aber, wie gesagt, mag ich natürlich auch die Amerikaner, wie zum Beispiel Saunders, Hemingway, Capote und Carver. Doch liegt uns Iren das Schreiben von Kurzgeschichten einfach im Blut. Denken Sie nur an Frank O’Connor. Ich liebe diese Literaturgattung. Man kann Momente beschreiben, die alles erzählen. Wenn etwa zwei miteinander tanzen, dann kann man mit der Schilderung des Tanzes ein ganzes Leben erzählen. Und Kurzgeschichten sind ideal, um damit zu experimentieren.
Sie können damit ihre Stärken und Schwächen ausloten?
Ja. Ich bleibe einfach bei einem Gedanken. Spinne ihn fort und lasse mich dabei nicht von der wie beim Romanschreiben geforderten Seitenzahl ablenken. Ich gehe meinem Gefühl nach und lerne dabei, auf den Punkt zu kommen. Guter Junge wurde ja aus einer Kurzgeschichte „geboren“. Als ich sie aufzeichnete, hörte ich auf einmal Mickeys Stimme. Ich schrieb eine zweite, eine dritte Episode und merkte, dass ich dabei war, Kapitel zu schreiben. So kommen in den Roman Details, die man zu gern herausfiltern würde. Aber sie gehören eben zu Mickeys Leben dazu und machen es so realistisch.
Ein Beispiel?
Die Glasscherben. Mickey sieht sie überall. Und plötzlich werden sie zu einem glitzernden Schatz, der ihn zum Träumen verführt.
Ist es sein Traum, der Mickeys Geschichte vorantreibt?
Sicher. Aber es ist zuerst einmal der Humor, der ihn wie ein Schiff über die reißenden Fluten trägt. Damit gönnt man auch dem Leser eine Pause, um sich zu erholen und auch mal die schönen Seiten des Lebens zu betrachten. Der Humor ist in diesem Roman überaus wichtig, denn in diesem Buch geht es um nichts Anderes als ums Überleben. Und das kann ich nicht nur mit dunklen Farben beschreiben.
Den Artikel über Paul McVeighs Roman Guter Junge finden Sie hier!