Eintauchen in Bücherwelten

Ein kluges Buch feiert die Institution Bibliothek

No. 04/2011

Von Oliver Herwig

Von „Peak Oil“ muss kein Autofahrer gehört haben, er spürt dessen Bedrohung, wenn er an der Zapfsäule über steigende Preise flucht und hört, dass wir am Gipfel des fossilen Zeitalters stehen. Bald könnte der Schreckensruf „Peak Book“ unter Bibliophilen erschallen. Denn womöglich überschreiten wir gerade den Höhepunkt der traditionellen Buchkultur. Das Internet verändert unsere Welt. Erst traf es Enzyklopädien, die unter dem Ansturm von Wikipedia verschwanden, dann folgten normale Bücher, aufgesaugt von digitalen Plattformen und abgespielt auf dem iPad. Nun könnten ganze Bibliotheken betroffen sein, die Gedächtnisse unserer Zivilisation. Dieser Eindruck stellt sich zunächst ein, wenn man das grandiose Buch-Werk Die Weisheit baut sich ein Haus. Architektur und Geschichte von Bibliotheken aufschlägt. Es klingt wie ein Abgesang auf die Welt der Büchereien, der Ausleihschalter und Kataloge. Die Bibliothek als Arche ist eine Metapher, dahinter steht die Angst, im Mahlstrom des Netzes unterzugehen, das erst alles Wissen verschlingt und später in wohl dosierten Bits und Bytes kommerziell verwertet.

Medienzentrum der BTU Cottbus © Ulrich Zimmermann

Medienzentrum der BTU Cottbus © Ulrich Zimmermann

Zwischen Wissensspeicher Bibliothek und Geldspeicher Suchmaschine liegt mehr als ein Knopfdruck. Das kluge Buch öffnet einleitend ein Panorama der Ideen-Geschichte Bibliothek. Vom digitalen Epochenschnitt geht der Blick zurück zur historischen „Strukturierung und architektonischen Verfestigung des Wissens“. Wie sahen die ersten Schriftsammlungen aus, und welche Form haben ihre Baumeister gewählt?

Bibliotheken sind der Versuch, die chaotische Welt zu ordnen und ihr ein anderes, ein aufklärerisches Antlitz zu verleihen. In der Systematik der Kataloge, die ihrerseits ein Abbild der jeweiligen Hierarchie des Wissens bilden, wird aus dem zerstreuten Einzeltitel ein kultureller Baustein. Vielleicht 70 000 Bände umfasste die Bibliothek von Alexandria. Sie avancierte zum Symbol der allumfassenden, absoluten Sammlung. Kein Stück und auch kein Bild hat sich von ihr erhalten, nur eine dürre Beschreibung bei Strabo. Ihr Untergang wirft ein bezeichnendes Licht auf die weiteren Mühen, den Wissensbergen Herr zu werden, die nach dem Ende der antiken Bibliotheken in mönchischen Schreibstuben zunächst konserviert wurden, um mit der Renaissance erneut zu wachsen.

Nach Jahrhunderten kultureller Sammelwut entsteht in der Frühen Neuzeit ein Gebäudetyp, der dem Wandel der Wissenskultur Rechnung trägt: die moderne Bibliothek. Sie vereint Geist und Hülle, Schönheit und Systematik. Hier liegt die Stärke des Katalogs, der Meisterstücke von Michelangelo über Étienne- Louis Boullée bis hin zu Dominique Perrault plastisch vor Augen führt und somit den Typus Bibliothek erklärt. Einsichtig wird an dieser Stelle auch, wie sich etwa das Verhältnis zwischen Lesesaal und Magazin wandelt und was der enorme Wissenszuwachs für das Gebäude bedeutet.

Mit dem Nationalstaatsgedanken wächst im Buchspeicher eine andere Spielart kultureller Einheit. Nationalbibliotheken in London, Paris und Washington wurden zu Brennpunkten nationaler Produktivität, ihre Kuppellesesäle konfrontierten die Wissbegierigen mit der Expansion der Wissenssphäre, welche bald schon die Möglichkeiten der Kataloge und Lager überstieg. So sehr auch Etats und Magazine wuchsen, sie konnten nicht mehr Schritt halten mit der Produktion.

Weltwissen war plötzlich nicht mehr unter einen Hut (oder eine Rotunde) zu kriegen, es war auch kaum mehr zu indizieren, wie es die fiktiven Bibliothekare von Umberto Ecos Name der Rose versuchten, Weltwissen hatte immer revolutionären Charakter. Wer die Gesellschaft aus den Angeln heben wollte, musste erst die Kräfte verstehen, die sie zusammenbanden. Karl Marx war so ein Suchender in den Bücherbergen der British Library. Moderner erscheint heute Walter Benjamins in der Pariser Nationalbibliothek geschaff enes Passagenwerk. Das Ganze ist verloren wie die Bibliothek von Alexandria, was bleibt, sind Fragmente.

Zugleich fragt das Sammelwerk nach dem Wesen der Bibliothek, einer festen Burg. Wissen soll gesichtet, gesichert, vielleicht gar gerettet werden. Conrad Gesner betrieb seine 1545 erschienene Bibliographie Bibliotheca universalis aus der Furcht, das Wissen gehe sonst womöglich verloren und mit ihm die Kultur. Wer sich durch das gewichtige Katalogbuch arbeitet, erhält einen ähnlichen Eindruck. Hier wird ein Epitaph verfasst für eine fragil gewordene Kulturleistung, eine leckgeschlagene Arche. Wie Mehltau liegt hinter dieser Würdigung einer großen Kulturleistung Furcht, in der virtuellen Welt ortloser Datenströme zu stranden. Aus der örtlichen und geistigen Sammlung, dem Zwiegespräch zwischen Leser und Autor, wird Zerstreuung, aus größtmöglicher Konzentration räumliche Entgrenzung. Neuere Bibliotheksbauten verlieren ihre Form und stehen als spektakuläre Amöben oder kantig zersplitterte Wissensberge in den Städten. Wer braucht noch Studierzimmer und Lesesaal, der über Breitbandinternet und WLAN verfügt? Nach dieser Lesart wird der überall feststellbare Neubauboom der letzten Jahrzehnte zum „letzten Aufbäumen“ (Winfried Nerdinger) vor der endgültigen Digitalisierung. Eine düstere Aussicht für all jene, die ihre Sozialisierung im Lesesaal der Universitäten erfuhren, die Bücher als überzeitliche Kulturgüter schätzen und denen Lesen mehr bedeutet als schneller Informationsgewinn.

Was aber bedeutet Bibliothek heute? Wer etwa die wunderbar offene und leutselige Stadtbücherei von Amsterdam erlebt hat, ahnt, warum inzwischen auch in der Stadtteilbibliothek München-Pasing eine Espressomaschine Einzug gefunden hat. Büchereien wandeln sich zu Wohlfühlorten, auch wenn Kritiker darauf verweisen, dass sie immer noch weniger bildungsfernen Familien dienen als bürgerlichen Bildungsfreunden zur Selbstvergewisserung. So beschleicht einen das Gefühl, dass dieser gelehrte Katalog vor allem der Welt analoger Wissensdarstellung nachtrauert. Bücher mögen verschwinden und später als digitale Schatten wiederauferstehen. Datenströme und digitale Medien mögen die Wissenschaftslandschaft verändern, die Institution Bibliothek bleibt. Sie wird sich wandeln und weiter öff nen müssen. Die beste Sicherung gegen den Verlust des Wissens ist womöglich keine aus Mauern, ahnte schon Gesner, sondern eine aus Seiten, und diese können digital sein.

Am Ende steht wieder ein Wälzer. 416 Seiten, gebunden, ein schönes Nachschlagewerk mit klugen Gedanken, bereit für die heimische Sammlung. Der Bücherfreund mag frohlocken, andere sehen in dem Werk womöglich nur ein fast anderthalb Kilo schweres Umzugserschwernis.

Winfried Nerdinger 
Die Weisheit baut sich ein Haus. Architektur und Geschichte von Bibliotheken 
Prestel Verlag € 49,95