Zwischen Tradition und Tabu
No. 02/2024
Dass es unter den jüdischen Stimmen niemals nur eine Meinung gab und gibt, offenbart die Ausstellung Sex. Jüdische Positionen. Entsprechend facettenreich zeigt sich dem Museumspublikum auch der Einblick in die unzähligen Auffassungen von Sexualität im Judentum. Der bewusst mehrdeutige Titel spiegelt die Bandbreite von Positionen, die von traditionellen Artefakten über zeitgenössische Kunst hin zu Film und anderen Medien reichen.
Ein Höhepunkt der Schau, in deren Zentrum Fruchtbarkeit, Homosexualität, Pflichten und Fetische stehen, ist die moderne Auseinandersetzung mit jüdischen Ritualen und Philosophien: seien es Fotografien, die etwa den Gebetsriemen Tefillin als Symbol für Bondage und Fetisch darstellen oder der sehr lustige Ausschnitt aus dem Kurzfilm The Honeymoon Suite von Sam Leifer, in dem ein frisch verheiratetes Paar die ersten Versuche von Intimität wagt. Wenn es einen roten Faden gibt, ist es sicherlich der scharfsinnige jüdische Humor, der sich durch die vielschichtige und anspruchsvolle Ausstellung zieht, die derzeit von einer ersten Station im Jüdischen Museum Berlin nach Amsterdam umzieht.
In ihrer Gesamtheit verdeutlichen die präsentierten Werke, wie sich das jüdische Verständnis von Sexualität im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neu in sozialen und religiösen Kontexten formte – und von bedeutenden Persönlichkeiten, wie etwa dem Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld oder der Sexualtherapeutin Ruth Westheimer, liberal gehandhabt und offen diskutiert wurde. Sex war und ist allgegenwärtig, darin besteht selbst unter den Rationalisten und Kabbalisten Konsens, die sonst bei ihren Auslegungen der rabbinischen Literatur uneinig sein mögen. Verbote geben nicht nur Orientierung, sondern existieren oft auch, um gekonnt übergangen zu werden – das veranschaulicht die TikTok-Influencerin Miriam Anzovin mit ihren Interpretationen rabbinischer Texte aus einer feministischen Perspektive. Ebenso eindrucksvoll und mutig geht die israelische Künstlerin Noa Snir heran. Ihr gelingt es, auf erfrischend unaufgeregte Weise Szenen aus dem Talmud in die Moderne zu übersetzen. la
Sex. Jüdische Positionen 22.November 2024 bis 25. Mai 2025 Joods Museum, Amsterdam Katalog zur Ausstellung 224 Seiten, 80 Abb. in Farbe Text: Deutsch/Englisch Hirmer Verlag € 45,–