Rosas Kleid

Premiere - Eine bisher unveröffentlichte Erzählung von Ruth Rehmann

No. 01/2012

Ruth Rehmann, am 1. Juni 1922 in Siegburg / Rheinland geboren, studierte Kunstgeschichte, Archäologie, Germanistik und Musik, bis der Zweite Weltkrieg ihre Pläne durchkreuzte. 1945 ließ sie sich im Chiemgau nieder, schloss ihr Musikstudium ab und arbeitete u. a. als Lehrerin und Pressereferentin für ausländische Botschaften. In den 50er Jahren unternahm sie Reisen nach Algerien, Griechenland und Frankreich. Gleichzeitig entstanden die ersten Romane, Erzählungen und Hörspiele. Aus ihrem ersten Roman Illusionen las sie der Gruppe 47 vor und wurde noch an Ort und Stelle vom Suhrkamp-Verlag unter Vertrag genommen. Neben zahlreichen Literaturpreisen erhielt sie 2001 für ihr Engagement in der Friedens- und Umweltschutzbewegung das Bundesverdienstkreuz. Ihr neuester Roman Ferne Schwester ist 2009 im Hanser Verlag erschienen. Anlässlich ihres 90. Geburtstags am 1. Juni erscheint bei dtv die Taschenbuchausgabe.

Das Kind wächst in die Höhe, aber nicht in die Breite. Während die Mädchen in seiner Klasse Busen und Hüften ansetzen, ist bei ihm nichts dergleichen zu sehen. Platt wie ein Brett! spottet der große Bruder. Der Vater nennt es zärtlich: Unser Fliegengewicht. Weil es so leicht ist und schnell wie der Wind, sagen die Geschwister, wenn etwas Eiliges auszurichten ist: Schickt doch das Kind, es läuft gern.

Mit wirbelnden Beinen und flatterndem Schopf rennt es davon. Es ist ein schneller und zuverlässiger Bote. Das ist seine Rolle in dieser Familie und sie bleibt es sein Leben lang. Für den Rückweg nimmt es sich Zeit, entdeckt unbekannte Straßen, schlüpft in fremde Höfe und Gärten, unterhält sich mit Straßenkindern, kommt mit schmutzigen Knien und zerrissenem Kleid zurück. Da es liederlich mit seinen Sachen umgeht, muss es Rosas abgelegte Kleider auftragen. Zwar liebt es schöne Kleider, aber nicht so sehr, dass es sich die Zeit nähme, sie beim Spielen zu schonen und abends ordentlich auf den Bügel zu hängen. Es braucht eine eigene Kammerzofe, nörgelt die Mutter.

Der Vater nimmt Kleider nicht so wichtig. Es hat eben seine eigenen Präferenzen, sagt er. Bewegungsfreiheit ist nun mal seine oberste Präferenz. Die Mutter findet das nicht zum Lachen. Irgendwann wird es einen Haushalt besorgen müssen. Davon will der Vater nichts hören. Es wird studieren, sagt er, vielleicht Philosophie – ein Fach, das er selbst gern studiert hätte. Oder Musik, sagt die Mutter, die eine schöne Altstimme hat und als Mädchen Sängerin werden wollte.

Sie hat darauf bestanden, das Kind ein Instrument lernen zu lassen, am liebsten Klavier, wie die vier Großen, die allerdings beim Eintritt in die Oberschule aufgegeben haben. Das Kind hat sich für Geige entschieden. Inzwischen geht es auf die Oberschule für Mädchen in Bonn. Es gilt als begabt, man weiß nur noch nicht, wofür. Die Eltern machen sich Hoffnungen, allerdings nicht die gleichen. Vorläufig tut es sich schwer mit dem Erwachsen werden. Als die Mädchen in seiner Klasse sich allmählich in junge Damen verwandeln, klettert es immer noch auf Bäumen herum und spielt mit dem kleinen Jungen von nebenan Winnetou und Old Shatterhand. Das ändert sich erst, als die Tanzstunde ins Gespräch kommt. Einige aus der Klasse haben sich schon angemeldet und erzählen, wie es dort zugeht. Das Kind begreift, dass das Tanzen etwas ist, was man lernen muss. Zwar hat es immer schon getanzt, aus Lust und Übermut oder wenn eine Musik ihm in die Glieder fuhr, aber das kam ganz von selbst, je nach Laune. In der Tanzstunde lernt man, wie man es richtig macht und mit Partner.

Eines Abends, als die Familie im Studierzimmer beieinander saß, platzte es mit dem Wunsch heraus: Ich will in die Tanzstunde! und merkte gleich, dass es nicht der richtige Moment war. Die Mutter warf ihm einen warnenden Blick zu, aber es war schon zu spät. Das Gesicht des Vaters verfinsterte sich. Eine Pfarrerstochter nimmt an leichtfertigen Vergnügungen nicht teil, und was heißt überhaupt: Ich will!? sagte der Vater und dachte wohl, dass die Frage damit erledigt sei, aber das Kind, getroffen von dem ungewohnt harten Ton, reagierte empört mit Warum? und Was ist dabei? Das war der Anfang einer Szene, wie sie in diesem Raum noch niemand riskiert hatte, Widerworte, Vorwürfe, Klagen, Geplärr, mit dem Fuß Aufstampfen, beendet mit einem donnernden: Marsch ins Bett! Schäm dich!

Mit steifem Kreuz und erhobenem Kinn marschierte das Kind hinaus, knallte die Tür, blieb zitternd dahinter stehen und lauschte in das Schweigen, das die Runde befallen hatte. Endlich hörte es die Mutter sagen: Mit Rosa warst du nicht so streng; und Paul, der zweite Bruder, der bei solchen Szenen meist den Mund hielt, um nicht selbst in den Strafraum zu kommen, sagte leise: Sie durfte sogar auf das Stiftungsfest. Das ist was anderes, sagte der Vater; und nun hätte die Mutter fragen müssen: Was ist bei Rosa anders? Aber das tat sie nicht, weil Nachfragen und Widersprechen nicht ihre Art war, nicht in dieser Familie. Von allen verlassen, mutterseelenallein auf der Welt, kroch das Kind ins Bett, stopfte Kissen und Decken um sich herum, damit niemand sein Schluchzen hörte.

Als die Mutter viel später zum Gutenachtsagen kam, wandte es ihr den Rücken zu und zog die Decke über den Kopf, aber nicht so fest, dass es nicht hören konnte, was sie leise auf es hinabsprach:

Du weißt, wie lieb er dich hat, sagte sie. Er möchte dir alles schenken und erlauben, was gut für dich ist. Dass er dir etwas versagen muss, tut ihm so weh, dass er vor lauter Schmerz zornig wird. Ohne Zorn bringt er das Neinsagen nicht heraus. Du kannst mir glauben, dass ihn die harten Worte tiefer verletzen als dich. Aber warum? flüstert das Kind in die Kissen und bekommt keine Antwort, aber eine Umarmung, so lang und so zärtlich, dass Wut und Kummer sich darin auflösen. Als sie leise das Zimmer verlässt, weiß es, dass die Mutter die Dinge in die Hand nehmen wird.

Ein paar Tage später hängt Rosas Tanzkleid im Nähzimmer neben der Küche – ein lichtblaues, mit weißer Spitze abgesetztes Stilkleid mit engem Mieder, stoffbezogenen Knöpfchen und einem langen, weiten, in der Taille angekräuselten Rock. Die Mutter hat es selbst genäht. Rosa hat es zum Stiftungsfest getragen und bei den Studenten Triumphe gefeiert. Das Kind, das im Nachthemd heruntergekommen ist, steht andächtig davor und atmet den zarten Duft, der aus dem Stoff aufsteigt. Es zieht den weiten Rock auseinander und stellt sich vor, wie er beim Tanzen fliegt und schwingt. Vielleicht kommt Rosa nach Hause.

Wenn du grad da bist, kannst du ja mal hineinschlupfen, sagt die Mutter, die unbemerkt hinter es getreten ist. Sie nimmt das Kleid vom Bügel und hält es so, dass das Kind hineintauchen kann. Rosa ist es zu eng geworden, sagt die Mutter. Für dich ist es zu weit.

Sie nimmt das Stecknadelkissen aus dem Nähkörbchen, steckt sich ein paar Nadeln zwischen die Lippen und fängt an, überflüssigen Stoff abzustecken. Wegen der Nadeln kann sie nicht antworten, als das Kind fragt: Darf ich es tragen? Am Tag darauf rasselt die Nähmaschine, und am Abend hängt das Kleid fertig genäht und gebügelt am Schrank. Probier’s mal! sagt die Mutter. Das Kind schlüpft hinein und siehe, es passt wie angegossen. Glühend vor Entzücken dreht es sich vor dem Spiegel, macht ein paar Tanzschritte, lässt den Rock fliegen.

Darf ich’s dem Vater zeigen? fragt es. Die Mutter zögert. Er arbeitet! sagt sie. Aber das hört das Kind nicht mehr, weil es schon auf der Treppe ist. Vor der Tür des Studierzimmers bleibt es stehen und tut ein paar tiefe Atemzüge. Dann öffnet es leise die Tür.

Schau mich an!

Der Vater, der vornübergeneigt am Schreibtisch sitzt und mit spitzer Feder auf ein weißes Blatt schreibt, dreht sich um, tut einen flüchtigen Blick, murmelt: Ach, du bist es! und wendet sich wieder der Arbeit zu. Das Kind steht immer noch auf der Schwelle, wartet, wartet, spürt wie eine Kälte von den Füßen aufsteigt. Leise schließt es die Tür. Während es die Stufen hinunterschleicht, begreift es mit einer Trauer, die es nicht nennen kann, dass sein Auftritt dem Vater missfallen hat. Mag er nicht, dass es erwachsen wird? Wär es ihm lieber, es bliebe wie es ist – sein jüngstes Kind, sein Wildfang, sein kleines Mädchen?