Fresko-Kunsträtsel

No. 02/2014

WER BIN ICH?

Wäre ich ein Zeitgenosse, würde die einschlägige Boulevardpresse vermutlich schreiben: „Vom Migrantenkind zum Künstlerstar“ oder „Start-up-Unternehmer wird Millionär“, vielleicht auch „Erbschaftskrieg: Brachte ihn seine Frau ins Grab?“. Nicht auszudenken, wenn dies meine Mutter erlebt hätte, sie war eine strenge, gottesfürchtige Frau, die mir und meinen Geschwistern Bescheidenheit predigte und stets um unser Seelenheil bemüht war.

Mein Vater stammte nicht aus Deutschland, er war ein so genannter Zuwanderer, der durch sein handwerkliches Geschick schnell Fuß fasste und davon seine große Familie gut ernähren konnte. Im Nachhinein scheint es mir, als ob in meiner Familie ständig Kinder geboren wurden und wieder starben, aber so war die Zeit damals.

Einer meiner Freunde schrieb über mich, meine Nase sei edel, meine Stimme angenehm und meine Erscheinung insgesamt als ansehnlich zu bezeichnen – nun, das halte ich für untertrieben, denn ich war eine Augenweide, wie man an dem Selbstporträt sehen kann, das ich als Junge mit Hilfe eines Spiegels zeichnete. Ob ich auch ein begnadeter Liebhaber war, wie ein Astrologe aufgrund der Tatsache behauptete, dass Venus zum Zeitpunkt meiner Geburt im Haus des Merkurs stand – darüber wollen wir den Mantel des Schweigens legen. Bei meinem Vater absolvierte ich als junger Mann eine Handwerkslehre, suchte anschließend aber in einem anderen Beruf mein Glück. Da ich hochbegabt, geschäftstüchtig und ein Händchen für die Neuen Medien – so würde man heute sagen – hatte, mich darüber hinaus geschickt zu inszenieren wusste und durch meine Ehefrau in die höheren Kreise einheiratete, stand einer kometenhaften Karriere nichts mehr im Weg. Ich wurde berühmt und reich und einer der angesehensten Männer weit über die Grenzen meines Geburtslandes hinaus.

Über mein Leben und künstlerisches Schaffen ist einiges geschrieben worden. Aber es gibt nach wie vor weiße Flecken auf der Landkarte meiner Biografie. Einer davon ist das Rätsel um die Beziehung zwischen meiner Frau und mir. Waren wir glücklich? Warum blieb unsere Ehe kinderlos? Brachte meine Frau mich tatsächlich mit ihrer vermeintlich zänkischen Art, wie ein Freund nach meinem Tod behauptete, ins Grab? Ich weiß es, ich schweige dazu. Ein weiteres Geheimnis rankt sich um meinen plötzlichen Tod. Keiner wusste, woran ich wirklich starb. Aber bevor die Schlagzeile vor Ihren Augen entsteht „Wurde er Opfer eines Anschlages?“ kann ich versichern: Nein, ich wurde nicht von einem hinterlistigen Mörder gemeuchelt, vielmehr war es eine rätselhafte Krankheit, die mich kurz vor meinem 57. Geburtstag aus dem Leben riss.

Wer bin ich?

– Wer bin ich? –

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Auflösung des Kunsträtsels aus Fresko 01/2014: Gabriele Münter (1877–1962)