Eintauchen in die Exotik

Walter Spies - Ein Freigeist im Inselparadies Bali

No. 01/2018

Walter Spies, Heimkehrende Javaner, 1924, Öl auf Leinwand, Privatbesitz, © Afterhours Books, Jakarta

Als Walter Spies 1923 auf einem Schiff anheuert, das ihn zu seinem Sehnsuchtsort Indonesien bringt, lässt er alles hinter sich: ein Künstlerleben und die angesehene Kaufmannsfamilie in Deutschland, seinen Lebensgefährten Friedrich Murnau und Freunde wie Kokoschka und Dix. Wie der Maler in die exotische Welt eintauchte, zum Mittelpunkt der balinesischen Kunstszene wurde, Zeitgenossen wie Charlie Chaplin und Vicky Baum empfing, bis hin zur tragischen Wende in seinem Leben, der Verfolgung als Homosexueller, beschreibt Michael Schindhelm feinsinnig und kunstverständig in seinem neuesten Buch Walter Spies. Ein exotisches Leben. Über die Hintergründe und die Rolle Balis erzählte er Fresko in einem Interview.

Übt Bali heute noch eine Faszination auf Sie aus?

Dazu eine kleine Anekdote: Ich bin im Thüringer Wald aufgewachsen, im Kurort Bad Liebenstein. In meiner DDR-Kindheit wurde der Ortsname verkürzt zu Bali. Ich bin also in Bali aufgewachsen. Die Insel berührt mich trotz des brutalen Tourismus noch immer. Die lokale Lebenswelt hat eine seltsame Robustheit. Außerhalb der Zentren begegnet Ihnen zuweilen eine Szenerie, die den ursprünglichen Glamour erahnen lässt.

Welchen Bezug haben Sie zur balinesischen Musik?

Den wilden Affentanzchor Kecak, an dessen Choreografie Walter Spies mitgewirkt hatte, hörte ich zuerst in Fellinis Satyricon, irgendwann in den frühen Neunzigern. Das war so ergreifend, dass ich mich näher damit zu beschäftigen begann.

Wie haben Sie Walter Spies entdeckt? Führte der Weg über seine Malerei?

Tatsächlich kam ich über den Kecak auf Spies. Wirklich mit ihm beschäftigt habe ich mich aber erst auf meiner ersten Reise nach Bali vor einigen Jahren. Spies scheint auf der Insel allgegenwärtig. Ob Einheimische, ausländische Bewohner oder Reisebroschüren: Niemand kommt an ihm vorbei. Wenn Sie den Vergleich gestatten: Es ist ein bisschen wie mit Goethe in Weimar oder Wagner in Bayreuth. Die Bilder von Spies hielt ich zunächst für einen Rousseau-Abklatsch. Doch dann kam die Entdeckung: Spies hatte seinen eigenen Weg aus den Sackgassen der westlichen Avantgarde gesucht. Und wahrscheinlich gefunden.

Wo kann man aktuell Bilder von Walter Spies bewundern?

Spies zelebrierte – ein wenig kokett – seine Faulheit. Er hat langsam und wenig gemalt im Vergleich zu anderen seiner Generation. Vor allem in der Zeit auf Bali meist im Auftrag oder zumindest aus Geldnot. Die Bilder gingen in der Regel rasch weg, an Charlie Chaplin, Barbara Hutton, französische Aristokraten, Friedrich Murnau, Victor von Plessen, Spies’ holländische Freunde etc. Daher befinden sich die wenigsten Arbeiten in öffentlichen Sammlungen. Zweifellos ist Spies als Maler bis heute in Indonesien, Australien, Großbritannien, USA und Holland bekannter als in Deutschland. Im kommenden Frühjahr zeigt der Hamburger Bahnhof in Berlin die Ausstellung, dort werden immerhin einige Werke aus seiner Berliner Zeit in den 1920ern präsentiert.

Was würde Walter Spies 2018 unternehmen? Würde er heute in Deutschland bleiben?

Spies war ein Kind seiner Zeit, ich kann ihn mir nicht ohne große Manipulationen seines Charakters in der heutigen Welt vorstellen. Die Frage ist aber, was aus ihm geworden wäre, hätte er Deutschland nicht vor 95 Jahren verlassen. Vermutlich hätte er es zu einem anerkannten Vertreter des Magischen Realismus gebracht. Doch Spies interessierte sich nicht für eine Rolle in der Kulturgeschichte. Er lebte und liebte den Augenblick. Er malte nicht, um berühmt zu werden oder eine neue Kunstrichtung zu schaffen, sondern aus Bewunderung für die Magie jener Welt, in der er lebte. Spies konnte überall Wunder entdecken, selbst als Gefangener in einem Internierungslager im Ural. Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Ruhm der Nachwelt verband ihn übrigens mit den balinesischen Künstlern. Auf dem Bali von einst wirkte der Künstler in der „Community“ oft anonym. Nicht Zukunft, auch nicht Vergangenheit, sondern ausschließlich Gegenwart war für Spies eine Voraussetzung zur Arbeit. Er war buchstäblich ein Gegenwartskünstler.

Findet man Glück nur im Paradies?

Ich weiß nicht, ob man im Paradies Glück findet, ich war noch nie dort.

Was könnten die Orte des Glücks im 21. Jahrhundert sein?

Die Sehnsucht nach letzten Welten, in denen der Mensch von den Sorgen und Gefahren des realen Lebens befreit wäre, ist so alt wie der Mensch selbst. Sie richtet sich nicht unbedingt auf eine Wirklichkeit. Heute sagt man häufiger Utopie. Das Paradies ist ein Nicht-Ort und nur Paradies, solange es Nicht-Ort bleibt. In Anlehnung an Bakunin könnte man sagen: Indem der Mensch das Paradies sucht, bewältigt er das reale Leben.

War Walter Spies ein Optimist oder gar ein Utopist?

Spies sah bereits den Verfall der abendländischen Kultur und das Ende ihrer Hoheit gegenüber anderen Kulturen nahen. Er begrüßte letzteres und entwickelte im Austausch mit den Balinesen einen geradezu naiven Optimismus. Seit 90 Jahren ziehen Generationen von – sagen wir Andersdenkenden und nicht Aussteigern – auch mit seinem Beispiel vor Augen in die Tropen auf der Suche nach einem alternativen Leben. Viele dieser meist jungen Leute sind für immer dort geblieben, andere sind später nach Hause zurückgekehrt und Anwälte oder Tourismusunternehmer oder Künstler geworden. Walter Spies steht für die unbedingte Freiheit, den eigenen Weg zu gehen. Auf der Suche nach einer unverlorenen, unverlierbaren Utopie. Darin dürfte er sich nicht allzu sehr unterscheiden von den Jungen von heute, die wie er skeptisch gegenüber den Scheinantworten sind, die ihre – unsere – Gesellschaft ihnen bietet.

Sie sehen in ihm also ein Vorbild für die junge Generation?

Nach heutigen PC-Maßstäben gewiss nicht. Spies war distanziert gegenüber dem politischen Aktivismus seiner Umgebung im revolutionären Nachkriegsdeutschland. Ihm widerstrebte die holländische Kolonialgesellschaft auf Java, er war aber irgendwie auch Teil von ihr. Ich halte Spies für eine ungeheuer moderne Figur. Er lehnte den westlichen Imperialismus ab, setzte sich für die Selbstverwaltung Balis ein, die der Insel zu seinen Lebzeiten sogar gewährt wurde. Vor allem lebte er einen bis heute aktuellen interkulturellen Humanismus, mit dem er seiner Zeit weit voraus war. Sein Credo: Bewunderung und Liebe für das Fremde, Selbstbescheidung im Eigenen.

Haben Sie ein besonderes Verständnis für die Suche bzw. Neugierde von Walter Spies?

Ich habe fünf Jahre in der Sowjetunion studiert und später, während Gorbatschows Perestroika, am Aufbau einer Redaktion der ersten Zeitung für Russlanddeutsche mitgewirkt. Der Deutsche als friedlicher Kolonist im Osten, als das Opfer stalinistischen Terrors, das Deutsche als exotische Fremdkultur in den Weiten Mittelasiens, das alles interessierte mich seit langem. Zudem habe ich in den 1970er und 80er Jahren in einer gottverlassenen sowjetischen Provinzstadt Entwicklungshilfe in umgekehrter Richtung kennengelernt. Irakische Studenten brachten mir die russische Umgangssprache bei. Äthiopische und senegalesische Freunde fütterten mich im Wohnheim durch, da sie mit ihren Dollars auf dem Schwarzmarkt vernünftige Nahrungsmittel erstanden, die für mich armen Ossi unerschwinglich waren. Wenn ich später durch die Länder meiner Freunde gereist bin, habe ich diese umgekehrte Optik im Auge behalten.

Wie viele autobiografische Parallelen zu Michael Schindhelm findet der Leser in diesem Buch?

Von Parallelen würde ich nicht sprechen, mich interessiert das Problem multipler Identität. Spies war Russlanddeutscher. Sein Leben vor Bali zeigt die Konflikte: Er ist russisch und deutsch zugleich, weder das eine noch das andere. In meinem Roman Roberts Reise sagt die autobiografische Hauptfigur: Ich bin ein Keinheimischer. Das hätte auch Walter Spies sagen können.

Michael Schindhelm,©  AurorebelkinPhootography

Michael Schindhelm (*1960) ist Schriftsteller, Filmemacher, Kurator und Kulturforscher. Nach seiner Tätigkeit am Zentralinstitut für physikalische Chemie in Ostberlin legte er sein Romandebüt Roberts Reise vor, wurde als Intendant des Theaters Basel mehrfach ausgezeichnet, leitete als Generaldirektor die Berliner Opernstiftung und als Gründungsdirektor die Dubai Culture & Arts Authority. Er lebt in Lugano und in London.

 

 

 

Cover für Walter SpiesWalter Spies - Ein exotisches Leben
von Michael Schindhelm
240 Seiten, 29 Abbildungen in Farbe
Hirmer Verlag € 19,90