Ein EU-Rad für Europa

No. 04/2012

Von Christian Bauer

Das Leben ist bekanntlich eine Baustelle. Der eine baut an seinem Schloss, ein anderer zahlt seine Hütte ab. Andere tun sich zu einem Team zusammen und gestalten das Leben gemeinsam. Wann immer es um konstruktive und schöpferische Großleistungen in der Sozialgeschichte Europas ging, hat sich der Geist der Kooperation über Grenzen hinweg bewährt.

Für viele stellt sich Europa derzeit als ein unbehauster Ort dar, an dem zunehmend allgemeiner Unmut regiert. „Festen Mut in schweren Leiden“, wie es bei Schiller heißt, ist geboten, damit das Friedensprojekt Europa zukünftig bestehen kann.

Eine Bauhütte für Europa

Unbestreitbar werden kulturelle Gemeinsamkeiten in der EU von ökonomischen Interessen überlagert. Doch der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Eine europäische Öffentlichkeit ohne ein Kraftfeld des Mitgefühls gefährdet die politische Zukunft Europas. Die Massen auf den Straßen von Athen, Madrid und Lissabon fordern dies. Die meist finanzpolitisch gehaltenen Antworten aus Brüssel, Berlin und Paris sind kein adäquates Echo: Wir brauchen einen realen Weltort der Solidarität. Gemeinsam mit Menschen aus ganz Europa möchten wir diesen Ort erschaffen, der unter dem Zeichen der Solidarität steht. Freilich ist Solidarität ein hehrer Begriff , der in der EU zu einem tagespolitischen Schlagwort verkommt. Er soll endlich Gestalt annehmen. Das Projekt EU-Rad für Europa soll als eine aus Leichtmetall, Verbundstoff en und Holz gefertigte Großskulptur im Herzen Europas entstehen. Das gut 20 Meter hohe Kunstwerk könnte seinen Standort im Dreistromland zwischen Rhein, Maas und Schelde finden. Es mag als ein Gerüst für die Aneignung der kulturellen Vielfalt Europas dienen. EU-BürgerInnen kommen dort zusammen, um in das aus 27 Einheiten bestehende EU-Rad Materialien und Medien einzulagern, auf die sich wahl weise zugreifen lässt. Das können mediale Artefakte aller Art sein: Bücher, Fotografien, Filme, Plakate etc., die in den jeweiligen Modulen aufbewahrt werden sollen. Die 27 Einheiten repräsentieren die EU-Mitgliedsländer und ihren wechselseitigen historischen und emotionalen Bezug aufeinander. Der Grundgedanke ist: Nicht Politiker sollen Europa erklären. Die Bürger sollen sich Europa selbst erklären, indem sie aktiv daran bauen. Die Hoffnung ist, dass somit eine neue Begründung in Szene gesetzt wird und eine Bauhütte für Europa entstehen kann.

Die Ressource heißt Mitgefühl

Igor Sacharow-Ross, Konzeptskizze zum EU-Rad für Europa, 2011, Mischtechnik auf Karton, 100

Igor Sacharow-Ross, Konzeptskizze zum EU-Rad für Europa, 2011, Mischtechnik auf Karton, 100 70 cm

Im Hinterkopf steht eine Tradition, die schon das Bauhaus verkörperte. Das Bauhaus wie der europäische Kathedralenbau sind ohne das Element der Bauhütte als einem Ort der „Hegesozialer Bindungsfähigkeit“ (Bazon Brock) nicht zu denken. Das Ethos der Brüderlichkeit ist wieder zur Blüte zu bringen. Der „Baubetrieb im Mittelalter“ (Günther Binding) hat in beispielhafter Weise die Einheit von gotischer Kathedrale und Bauhütte in planerischer, fabrizierender und konservatorischer Hinsicht hervorgebracht. Der Künstler Igor Sacharow-Ross hat ein entsprechendes Baukonzept entworfen. Aus eigener Erfahrung weiß er um die Potenziale, die aus Kollaborationen mit Wissenschaftlern aller Couleur entstehen können. Seine Räume und Installationen, wie zum Beispiel der Syntopie Ort 2000 (Köln), sind häufig als Baustellen angelegt, bei der die Energieressource „Mitgefühl“ zur Geltung kommt: Im Hier und Jetzt des Zusammenwirkens werden empathische Potenziale ausgeschöpft und gedeihen Freundschaften. Für das EU-Rad-Projekt ist Igor Sacharow-Ross die Mitgestaltung durch Jugendliche, Auszubildende und Studierende wichtig. Gerade die junge Generation von Europäern ist an die Bauhütte als ein „Labor des Vertrauens“ heranzuführen. Durch konkrete Zusammenarbeit sollen gemeinsam geteilte Erfahrungen gesammelt werden. Es soll Vertrautheit entstehen, damit Vertrauen wachsen kann. Das Fremde ist bloß bedrohlich als Gespenst, als unbekannte Größe. Durch die Etablierung von neuartigen Verknüpfungen wird eine „Syntopie“ (Ernst Pöppel) geschaffen, die der Verwirklichung des europäischen Gemeinwesens zugute kommt. Die neu zu schaffenden sozialen Geflechte sind abhängig von den sozialen Tugenden und lebenslangen Lernprozessen der Beteiligten. Das EU-Rad für Europa wird als Projekt der Kollaboration stets offen für Transformation und daher immer ein Provisorium sein. Und das ist gut so. Denn wie ein altes Sprichwort sagt: Wenn das Haus fertig ist, stirbt der Mensch. Lassen Sie uns gemeinsam weiterbauen!

Ein Projekt mit Potenzial 
Der Künstler Igor Sacharow-Ross und der Philosoph Christian Bauer: „Wir wollen mit Ihnen gemeinsam an einem Europa der BürgerInnen bauen.“